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HAT MANFRED BOCKELMANN AUCH DEN DEUTSCHEN ETWAS ZU SAGEN?

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Der neue Wanderer Manfred Bockelmann über dem Nebelmeer / Foto: VBK Wien

Vom 17. Mai bis 2. September 2013 präsentiert das Leopold Museum die Sonderausstellung »Zeichnen gegen das Vergessen«. Im großen Saal eines der vielen Untergeschosse des Gebäudes zu sehen: etwa sechzig erkennungsdienstlich behandelte Kinder und Jugendliche, mit breit gestreiften Häftlingsanzügen und kahlgeschorenen Köpfen nach ihrer Deportation durch NS-Schergen in die Spitäler und Lager.

 

An einer Wand aber keine traurigen, resignierten oder geschockten Gesichter, sondern fröhliches Kinderlachen in bester Sonntags-Kleidung: im Matrosenanzug, im Kostüm, mit Zylinder. Bei dieser zweiten Sorte von Portraits dienten Manfred Bockelmann Aufnahmen als Vorlagen zu seinen Bildern, zu denen sich die Kinder in den Lagern und Kliniken freiwillig gemeldet haben – nichtsahnend was ihnen noch bevorstand.

 

»Ich zeige keine Märtyrer, keine Leichenberge und keine geschundenen Kreaturen, deren Gesichter von Hunger, Krankheit und Erschöpfung gekennzeichnet sind, die ihrer Individualität beraubt wurden. Ich zeige Individuen, denen das Martyrium noch bevorsteht«, betont der Kohlezeichner, dem das Erinnern und die geistig-seelischen Schäden der Überlebenden ein besonderes Anliegen sind.

 

Bockelmann wirkt unruhig und gehetzt, und zugleich doch wieder so hingabefähig und sensibel, wie man seinen erfolgreich Liebesschnulzen vortragenden  Bruder, den Sänger und Populärmusiker Udo Jürgens, kennt. Der 1943 geborene Arbeiter im Bergwerk der Erinnerung berichtet, im Alter von 14 Jahren die ersten Dokumentarfilme über die Befreiung der Überlebenden in den deutschen Konzentrationslagern gesehen zu haben. Das war für die 1950er-Jahre nicht ungewöhnlich. Die österreichische Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hat einmal erzählt, ihr Vater habe dem Mädchen schon im zarten Alter von nur sechs Jahren die gefilmten Leichenberge gezeigt.

 

Bockelmanns Vater Rudolf war von 1938 bis 1945 als aktiver und bestens vernetzter Nationalsozialist Bürgermeister der zweisprachigen Gemeinde Ottmanach am Magdalensberg in Kärnten, und Rudolf Bockelmann bekleidete das Amt des Bürgermeisters von 1954 bis 1958 trotz seiner politischen Belastung im Dritten Reich wieder. Diesmal als »parteiunabhängiger Kandidat«, wie sich die ehemaligen Volksgenossen nach dem Krieg für alle Gleichgesinnten bestens verständlich nannten.

 

Diese politische Camouflage der durch ihr Mitläufertum in der Ditatur belasteten Personen war im befreiten Österreich kein ungewöhnlicher Vorgang, und im NS-verseuchten Kärnten muss er sogar als normal bezeichnet werden. Tausenden der österreichischen Hitler-Anhänger, besonders in akademischen Berufen, gelang es nach einer kurzen Abkühlungsphase, ihre Karrieren fortzusetzen.

 

In diesen Jahren der zweiten Amtszeit seines Vaters will Manfred Bockelmann sein Damaskuserlebnis vor der Leinwand gehabt haben. Und von da an habe ihn das Thema des Holocausts, so betont er heute, nie wieder losgelassen. Ist diese Aussage glaubwürdig? Es existieren keine Spuren von der behaupteten Verletzung in Bockelmanns Reportagefotografien, kein Bild aus früheren Phasen, kein Plattencover, nichts deutet darauf hin, dass diesen Mann das Schicksal der unterernährten und »liquidierten« Lagerkinder je mehr als den Durchschnittsösterreicher beschäftigt hat.

 

Als Reisefotograf und später als freier Künstler wandte er sich  formal weit schwierigeren Sujets zu: Bockelmann studierte die Texturen von Sanddünen und Reisstrohmatten, er überpinselte hunderte Zeitungspapierseiten. Bockelmann schlingerte ausgiebig mit Farbpinseln über Leinwände, er rechte mit Werkzeugen Spuren in den Sand, er untersuchte alle möglichen abstrakten Strukturen und Erscheinungen, bis er 2011 die »Zeichen des Vergessens« zu seinem großen Altersprojekt machte.

 

Hat nun die Serie dieser nach Haftfotos entstandenen Kinderportraits im restitutionsgeplagten Leopold Museum nur Österreich etwas zu sagen? Hat man in der Alpenrepublik die politische Vergangenheit während der Diktaturen der 1930er- und 1940er-Jahre immer noch nicht gründlich aufgearbeitet?

 

Oder herrscht in Wien vielleicht gerade ein Wahlkampf, der sich auf allen möglichen kulturellen und medialen Ebenen der Vergangenheitssymbolik bedient? Ist das der Grund, warum wir beim südlichen Nachbarn plötzlich eine Passion für das finstere und monströse Gestern erleben, während im Mutterland der Katastrophe gerade der NSU-Prozess über die Bühne geht, während in Deutschland Neonazis regelmäßig in regionale und lokale Parlamente gewählt werden und sich die Kulturschickeria öffentlich als der Erinnerungskultur überdrüssig zu erkennen geben darf?

 

Ich sehe in Manfred Bockelmann durchaus mehr einen deutschen als einen österreichischen Künstler. Nicht nur, weil er seit dreißig Jahren mit einem Bein in München lebt, sondern weil es ihm gegeben scheint, »zu sagen, was er leidet«: also an dem einzigartigen Völkermord in der Geschichte der Menschheit, an der Vernichtung von Menschenmassen im industriellen Takt von Deportationen, Eisenbahnzügen und Verbrennungsöfen.

 

Hat sich nicht auch der überaus erfolgreiche Nestor der Schlagerwelt, der brüderliche Udo Jürgens, dem Publikum als typischer Deutscher anempfohlen? In der Tageszeitung Die Welt vom 15. August 2004 hat Jürgens behauptet, auch in seinen Adern fließe vor allem »deutsches Blut«, er liebe Deutschland »über alles« und er sei eigentlich nur »Deutscher mit österreichischem Pass«; unbeschadet davon wurde er drei Jahre später in Zumikon eingebürgert.

 

Wie, fragt man sich verwundert, passt denn dieses immens kreative Paar der Bockelmann-Brüder überhaupt unter einen familiären Hut: hier der am größten Menschheitsverbrechen leidende und zur Erinnerungsproduktion getriebene Deutsche, und da der immerfröhliche Schlagerdeutsche, der in mehreren autobiographischen Anläufen die Rolle des nationalsozialistischen Gutsherren und Vaters während und nach dem Krieg nachweislich zu beschönigen versuchte?

 

(Wird fortgesetzt)

 

© Wolfgang Koch 2013

 

http://www.leopoldmuseum.org/de/ausstellungen/51/manfred-bockelmann

 

 

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HÄTTE MANFRED BOCKELMANN BESSER DIE TÄTER PORTRAITIEREN SOLLEN?

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Manfred Bockelmann: Josefine K., 11 Jahre / Foto: VBK Wien, F. Neumüller

»Zeichnen gegen das Vergessen« heißt die Hälfte einer neuen, im Wiener Leopold Museum gezeigte Serie von Manfred Bockelmann. Eines dieser Bilder zeigt die zweijährige Karolina Rigo, ein engelsgleicher Lockenkopf, der einem Kleinkind im deutschen Konzentrationslager Auschwitz gehört hat. Bockelmann portraitierte auch die lachende 12jährige Anna Cohen, und er zeichnete das schöne Renaissanceantlitz der 11jährigen Josefine K. – Zeile für Zeile, mit dem Kohlestift in Augenhöhe vor der Juteleinwand stehend, und nach fotografischen Frontalaufnahmen aus erhaltenen Aktenbeständen.

 

Er wolle mit der Serie gar keine Kunst machen, betont der Zeichner halb verlegen, er wolle einfach nur an ein schreckliches Schicksal erinnern, das Menschheitsverbrechen unvergesslich machen, ja, er wünsche sich von ganzen Herzen, sagt Bockelmann, dass die nächtlichen Partybesucher im Hof des Wiener des Museumsquartiers diese seine Zeugnisse des Grauens registrieren und fortan im Kopf behalten werden. Es gehe bei dieser Arbeit nie und nimmer um Kunst (als ob das etwas Anrüchiges wäre), sondern um Dokumente, die eine Wirkung unter den Nachgeborenen entfalten sollen, – und die nun, um zu wirken, vom Produzenten wie vom Aussteller als »Nichtkunst« maskiert werden.

 

Eine seltsam abdrehte Mimik ist das, die hier ein neuer Akteure der Auschwitz-Galaxy vor uns zeigt. Bockelmann spricht davon, dass er »Ähnlichkeiten« mit den inhaftierten Kindern abbilden will – doch Ähnlichkeiten wovon: von den Fotografierten mit den Ermordeten, von den Toten mit den Überlebenden, oder von den Opfern des Nationalsozialismus mit uns, den Nachfahren? Das sind drei völlig verschiedene Kategorien, die nicht vermischt werden sollten.

 

Unberücksichtigt bei dieser Erinnerungsarbeit bleibt weiters der Bildcharakters der historischen Vorlagen. Immerhin handelt es sich ja um Täterfotografie. Kann ein erkennungsdienstlich behandeltes Opfer überhaupt »verlebendigt« werden, wie das Bockelmann vorschwebt? Oder ist die »Wiedererweckung des Menschen« hinter den Fotos nicht vielmehr eine ästhetische Anmassung, ziemlich unpassend zum kühlen Pathos unserer Tage, in denen Präsident Obama sich mit Schuhen am Schreibtisch und Angela Merkel im Badedress ablichten lassen?

 

Bockelmann will mit seiner Serie unbedingt gegen das »vollkommene Auslöschen« agieren, und der Museumsvorstand und Kurator Diethard Leopold assistierte dem temporären Nichtkünstler, indem er ein weiteres Paradoxon in den Raum stellte: Als Künstler, so der Kurator, sei Bockelmann bisher nicht eben erfolgreich gewesen und relativ unbekannt geblieben. Seit er sich aber als Nichtkünstler thematisch der nationalsozialistischen Kindervernichtung angenommen habe, sei er plötzlich in aller Munde.

 

Nun darf man schon mal fragen, was Artefakte eines Nichtkünsters im Leopold Museum zu suchen haben, wenn das nach eigener Definition doch »eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen moderner österreichischen Kunst« beherbergt? Igendwie gesteht der Kurator mit seiner Begeisterung für Museumsfremdes ein, dass diese Ausstellung eben doch etwas mit der umstrittenen Restitutionspolitik seines Hauses zu tun hat. Zumindest macht sich die Institution verdächtig.

 

Direktor Peter Weinhäupl versuchte es offensiver und erklärte die Bockelmann-Präsentation zum »wichtigen Schritt einer ideelen Komponente der Restitutionspolitik«. Kann und darf man aber einen solchen moralischen Schritt in der Öffentlichkeit einem Mann der Hautevolee vom Wörtersee überlassen, der demonstrativ auf den Kunstdiskurs (das heißt auf die Bezüge seiner Arbeiten zu anderen Kunstwerken, anderen Künstlern und ästhetischen Theorien) pfeift und einzig und allein auf den Überwältigungseffekt setzt?

 

Die Kohlezeichnung von Josephine K. auf Jute (150 x 110 cm) mit der erkennungsdienstlichen Fotovorlage / Foto: VBK Wien, M. Bockelmann

Die Indifferenz der Museumsleute spiegelt auf seltsame Weise den Versuche der Bockelmann-Brüder, ihren NS-Vater als einen durch und durch kultivierten Mann darzustellen, der mehrere Sprachen sprach und mit der Nichte des Dadaisten Hans Arp das lustige Leben der Bohemé in einem Kärntner Bergschloss führte.

 

Udo Jürgens erinnerte mehrfach in Interviews und Büchern daran, dass der Vater wegen Desertionsverdacht kurz vor Kriegsende einige Wochen in Klagenfurt in Gestapo-Haft saß. Das ist nicht falsch. Doch es existieren eben auch ausreichend Hinweise darauf, dass das Familienoberhaupt kein hilfloses Opfer der Zeitumstände und der ideologischen Verblendung war, sondern dass die Bockelmanns vor und nach 1945 engen Kontakt mit Schlüsselfiguren des Nationalsozialismus und führenden Holocaust-Tätern in Kärnten hatten.

 

Zu diesem braunen Umfeld zählten die Familie Mohrenschildt (»Onkel Reinhold«), ein Nachbar der Bockelmanns und Duzfreud von Gauleiter Friedrich Rainer, sowie der SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik, der für zwei Millionen Ermordete verantwortlich gemacht wird. Udo Jürgens erster Auftritt als Musiker fand 1952 im Tanzlokal des nationalsozialistischen Klagenfurter Cafétiers Ernst Lerch statt, einem Kriegsverbrecher, der nach der Befreiung auf wundersame Weise unbehelligt geblieben war.

 

Mit diesen Hintergrundinformationen sehen uns Karolina, Anna und Josefine noch einmal anders an.

 

(Wird fortgesetzt)

 

© Wolfgang Koch 2013

 

http://www.leopoldmuseum.org/de/ausstellungen/51/manfred-bockelmann

 

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DAS LOS DER DEPORTIERTEN KINDER WAR TOD UND VERGESSEN

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Manfred Bockelmann: Josef Maria Schneck, 2010-13, Kohlezeichnung auf Jute, 150 x 110 cm / Foto: VBK Wien, F. Neumüller

 

Von Hitlers Kindervernichtung 1941-45 lässt sich nicht pathosfrei sprechen, das ergibt sich schon aus dem Koinzidieren von Kindheit und Tod. Entsprechend zurückhaltend wird das Thema in der Fachliteratur behandelt. Allerdings lässt sich auch nicht behaupten, dass es irgendwie vergessen oder tabuisiert wäre.

 

Der offizielle Reader des Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau zum Beispiel widmet zwanzig von 460 Seiten den Lebensbedingungen der jüngsten Häftlinge im Lager, gegliedert nach folgenden Abschnitten: 1. Jüdische Kinder und Jugendliche, 2. Kinder und Jugendliche unter den Zigeunern; 3. Polnische Kinder und Jugendliche, 4. Kinder und Jugendliche aus Weißrussland und der Ukraine, 5. Im Lager geborene Kinder, 6. Das Leben der Kinder im Lager.

 

Jeder auf Aufklärung und Rationalität setzende Umgang mit dem Holocaust wird auf große Gefühle und Melodramatik verzichten. Warum tun es die Kinderportraits von Manfred Bockelmann im Leopold Museum nicht? Vielleicht weil sie der Wirkung des rationalen Diskurses nicht trauen und an seine Stelle ein ikonenhaftes Zeichen zur Erinnerung an das Verbrechen setzen möchten. Welche Erkenntnismythe liegt diesem Werk dann zugrunde?

 

Wir haben zunächst gesehen, dass Bockelmanns Arbeiten den Zwangscharakter der Häftlingsfotografie ignorieren; wir haben weiters gesehen, dass auf der Ebene der psychologischen Motivation des Künstlers eine Familienaufstellung von geradezu epischem Ausmaß mitgedacht werden muss; schließlich hat sich in dieser Untersuchung der neuesten Kultursensation gezeigt, dass sich der Kunstbegriff kaum von einer Museuminstitution dekonstruieren lässt.

 

Wenden wir uns nun zum Abschluss dem bildnerischen Vorgang selbst zu. Kurator Diethard Leopold schreibt: »Die archaische, brüchige, von der Hand des Künstlers geführte Kohle wirkt auf ihre Weise gegen die Kälte und Stabilität der erkennungsdienstlichen Linse, gegen das Mörderische, kein Widerreden duldende Arrangement«.

 

Bockelmann möchte das Kreatürliche der gezeigten Menschen bestätigen, eine »plötzliche Präsenz« der Kinder erzeugen. »So werden aus Namen und Nummern wieder Gesichter, und die Anonymität der Statistik ein Stück weit aufgehoben«.

 

Tatsächlich sehen wir Bilder, auf denen die Kinder und Jugendlichen wie aus einem netten Familienalbum wirken: ein Ausflug in den Prater im Matrosenkostüm könnte das sein, daneben eine Art Bewerbungsbild, und dann wieder ausgemergeltes Elend in Sträflingskleidung mit Nummer und Winkel. Beim Marketing der Ausstellung setzt das Museum ausschließlich auf diese letztere Gruppe der kahlgeschorenen Köpfe.

 

Manfred Bockelmann hat einmal erklärt, seine Berufung zum Künstler auf einer dreimonatigen Fotosafari 1973 durch Ostafrika erfahren zu haben. Ostafrika? Hat nicht der deutsche Ethnologe Leo Frobenius genau diese Weltregion 1933 zum Herzstück einer Kulturtheorie gemacht, die die Ergriffenheit in den Mittelpunkt stellte?

 

Frobenius sprach von einer übergreifenden äthiopischen Kultur Schwarzafrikas, die nicht den Intellekt, sondern das Gemüt anspricht. Der Wille zum Sinn geht dort durch eine romantische Hingabebereitschaft; er verlangt die Fähigkeit, sich von einem Werk emotional ergreifen zu lassen.

 

Wohl seit Jahrtausenden agieren bildende Künstler mit der Arbeitshypothese, ihr Schaffen würde Sinn und Wirklichkeit überhaupt erst konstituieren. Da sie schon Wahrnehmung als einen kommunikativen Akt ansehen, bedeutet Verstehen in der Folge immer relationale Einordnung. Dieses Muster erreicht in der Kunst geradezu ontologische Qualität: Etwas, das sich prinzipiell dem Zeichencharakter entzieht, kann nicht mehr gedacht werden, weil der Gesamtrahmen möglicher Wahrnehmung als kommunizierendes System des jeweiligen Status und der Stellung seiner Elemente gedacht wird.

 

Im vorliegenden Fall heißt das: Noch das erkennungsdienstliche Relikt vergangener staatlicher Verbrechen signalisiert dem Erinnerungsarbeiter späterer Zeiten seinen Platz im Drama der Geschichte. Der Künstler übernimmt eine schamanische, kunstpriesterliche Funktion, indem er für die anderen in den Hades steigt. Genau diesen Gedanken hat Alfred Hrdlicka am Albertinaplatz in der Figur des Orpheus festgehalten.

 

Auf diese Weise verwandelt sich Kunst selbst von der immer neuen Benennung eines Transzendenten, die sie im Abendland lange war, zu einem Begriffscode, in dem Symbolelemente mit ihren eigenen Denotationsräumen spielen: der Künstler als Nichtkünstler, das Vernichtete als Erinnertes, der sinnlich Wahrnehmbare der Zeichnung als das paideumatisch Zugängliche.

 

Einzig dank dieser Erkenntnismythe der Bildkunst kann Bockelmanns Serie »Zeichnen gegen das Vergessen« suggerieren, die Kinder seien ermordet worden, weil sie Kinder waren. Doch das NS-Regime und seine Handlanger haben Kinder und Jugendliche unzweifelhaft aus rassistischen Motiven vernichtet, also weil sie Juden, Slawen oder Roma waren.

 

Diesen Gefallen macht uns der Hitlerstaat nicht, dass er vor den Nachgeborenen als das unbegreiflich Böse dastünde, das sich ohne ein politisches Motiv an den Schutzwürdigen per se vergriffen hat.

 

(Ende der Serie)

 

© Wolfgang Koch 2013

 

http://www.leopoldmuseum.org/de/ausstellungen/51/manfred-bockelmann

 

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WIE DIE GIRAFFE IN DIE UKRAINE KAM – ЯК CAME Жирафа у УКРАЇНІ (I)

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Wolfgang Walkensteiner: What I didn't see in Ukrainian woods, 2013 (1), 200-100 cm / Foto: Walkensteiner

 
Giraffen sind in der zeitgenössischen Kunst ein No-Go. An diesem Umstand trägt ausgerechnet eines der kleinsten Werke des Spaniers Salvador Dalí die Schuld: 1936 malte der Surrealist mit Ölfarbe auf einer gerade mal 35 x 27 cm großen Holzunterlage das berühmte Gemälde Die brennende Giraffe.

 

Die ikonische Qualität dieser Arbeit ist sehr erstaunlich. Das Tier steht bei Dalí ja gar nicht im Mittelpunkt der Darstellung. Hinter zwei theatralischen weiblichen Figuren ist erst im hinteren Teil des Bildes jenes unvergesslicher Exemplar zu sehen, dessen Rücken in lodernden Flammen steht. Und Dalís Giraffe scheint dieser Brand, im Gegensatz zu den beiden schwer ramponierten Frauenkörpern, absolut nichts anhaben zu können – ein Symbol für die ewige, unvergängliche Natur im Kontrast zur Zerbrechlichkeit des Menschen.

 

Dass der in Wien und Kärnten wirkende Künstler Wolfgang Walkensteiner gerne unsentimentale Reisen an Punkte unternimmt, an denen die Erde sich anders dreht, irgendwie  rückartiger, langsamer oder auch kälter, ist Kunstkennern durchaus bekannt. 2010 zum Beispiel brachte der Mann, irregeführt von der Fremde Kasachstans, das Thema des Kometen mit nach Hause.

 

Als Walkensteiner im vergangenen Winter von einer Reise in der ukrainischen Wälder nach Wien zurückkehrte, musste er sich natürlich die neugierige Frage gefallen lassen, was er denn diesmal von seinem Trip mitgebracht habe, und Walkensteiner antwortete spontan: »Na, Giraffen sicher nicht!«

 

Nun  ist Walkensteiner kein nüchterner Zeitgenosse, der nach solchen Dialogen einfach wieder zur Tagesordnung zurückkehren kann. Wäre er so einfach gestrickt, hätte er ja Mittelschullehrer oder Politiker werden können.

 

In einem von der Muse geküssten Menschen ruft auch die kleinste Selbstauskunft noch ein Echo hervor, lässt ihn nachdenklich werden, und in diesem Fall eben so lange, bis Walkensteiner den harten Kampf mit den Dämonen der Kunstgeschichte aufnahm und trotz Dalí berühmter brennender Giraffe sich erstes eigenes Steppentier auf die Leinwand pinselte.

 

Ich erzähle das hier so ausführlich, weil Nichtkünstler, Laien sich häufig nicht erklären können, wie künstlerische Prozesse ablaufen. Die Logik, nach der Werke entstehen, wird meistens von außen angestoßen; der Künstler nimmt geistige Impulse im Dialog mit dem Leben auf; er übt sich darin, der alltäglichen Wahrnehmung einen zusätzlichen Sinn abzutrotzen.

 

Für diesen kaum steuerbaren Prozess ist Walkensteiners Sujetfindung ein gutes Beispiel. Erst einmal ins Werk gesetzt, entfalten die Giraffen nun im Atelier ihr eigenes, wildes Leben. Ein Giraffenkopf liegt obenauf am Haufen der Tonmodelle, zwei Tierschädel verdoppelten sich und wurden aus den Leinwänden herausgeschnitten, drei weitere, großformatige Tiere fügen sich zu einem Triptychon.

 

Walkensteiners Giraffen brennen natürlich nicht. Ihre großen unregelmäßigen Flecken im Fell gleichen eher Kratern oder Geschwüren. Was noch auffällt: Diese Exemplare trotten nicht im Passgang durch die Steppe oder staksen am fernen Horizont herum, sondern recken ohne Torso ihre Hälse wie überdimensionale Tentakeln in den leeren Raum.

 

Ähnlich wie beim Kometen-Motiv unmittelbar vor der Nuklearkatastrophe von Fukushima wird hier an die positiven Verheißungen einer überzeitlichen Natur nur noch mit Schrecken gedacht. Der Mensch taucht, wenn überhaupt, nur mehr in Form eines Totenschädels im jüngeren ŒOEvre des Künstlers auf. Und genau wie der Menwsch erscheint auch die vom Bewusstsein unabhängige Welt der Giraffe als das große Vergängliche.

 

Die klassische Moderne eines Dalí  konnte die Korrelation des Denkens und des Seins, in der wir uns immer schon befinden, der wir uns nicht entziehen können, noch unbeschwert feiert. Walkensteiner entzieht ihr alles Heroische.

 

Um den »Gast als Fremdkörper« soll die nächste Ausstellung kreisen, erzählt der Künstler. Ein ideales Vorhaben, um mit den Giraffen zu verreisen, um sie an jeden beliebigen Ort zu bringen, von dem er sie nicht mitgebracht hat.

 

(Wird fortgesetzt)

 

© Wolfgang Koch 2013

 

http://www.walkensteiner.at/

 

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WIE DIE GIRAFFE IN DIE UKRAINE KAM – ЯК CAME Жирафа у УКРАЇНІ (II)

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Wolfgang Walkensteiner: What I didn't see in Ukrainian woods, 2013 (3), 200-100 cm / Foto: Walkensteiner

Was sind in den letzten Jahren nicht alles für Seltsamkeiten aus Wolfgang Walkensteiners Wunderhorn gepurzelt! Rattenschwänze und Eier, Drachen und Kometen, 2010 sogar das »Schamhaar des Propheten«, das man angesichts von 600 Mädchen und Frauen, die derzeit in Afganistan unter fragwürdigen Vorwürfen in Haft gehalten werden, gerne in Kabul ausgestellt sähe.

 

Und jetzt auch noch Giraffen im Atelier. Das kommt daher, dass dieser österreichische Künstler mehrdeutige Symbole liebt wie ein alchemistischer Rosenkreutzer. Aber man soll sich aber nicht täuschen: Walkensteiners Hermeneutik liegen keine Spintisierereien, sondern diskusives Denken und Reflexion zugrunde.

 

In den nächsten Wochen fliegt dieser Werkblock dorthin, wo die Giraffen dank der Schlagfertigkeit des Künstlers geistig herstammen scheinen: in die ukrainischen Metropole Zhitomir. Dort feiert das, vom österreichischen Kunstsammler Erich Golitsch aufgebaute Unternehmen Eurogold Industries LTD seinen zehnjährigen Betriebsbestand mit einem hochkarätigen Ausstellungs- und Bildungsprogramm.

 

Wolfgang Walkensteiner zeigt in einer Halle der insgesamt 46.000 Quadratmeter umfassenden Fabriksanlage, in der Stehleitern und Bügelbretter für die halbe Welt produziert werden, seine neuesten Temperamalereien, darunter eine Serie von schwebenden Eiern mit Goldglanzeffekt, die Giraffen, ein lila Doppelsignalhorn und viele andere, häufig schwerelos wirkende Fremdkörper in bewegten Welten.

 

So prudentiell diese Kunst auf den ersten Blick auch wirkt, immer wieder gelingen dem Künstler nahezu tagesaktuelle Bezüge zu Wirklichkeit. One Eye Blind zum Beispiel: über die Leinwand schlängelt sich ein strenger Zopf aus drei grünen Strängen, der nicht von ungefähr an das Prachthaar der ukrainische Oppositionspolitiker Julija Timoschenko erinnert.

 

Dass der gute Geograph ein Künstler sein sollte, wissen wir seit Karten gezeichnet werden. Dass der gute Künstler ein begeisterter Reisender sein sollte, lässt sich ebenfalls leicht einsehen. Schließlich kann er nirgends besser die negative Fähigkeit erwerben, mit Ungewissheiten, Rätseln und Zweifeln zu leben, ohne gleich nervös nach Fakten und Begründungen zu greifen.

 

Technisch gesehen wird Walkensteiners Malerei immer flotter. Immer großzügiger zerschneidet er Leinwände und intarsiert Teile von Bild zu Bild. Der Maler spricht von einem »semi-parasitären Charakter des Fremdkörpers« bei diesem Vorgang: »Mit dem Applizieren fremder Teile im Bild überliste ich meinen Hang zum abgestuften Farbauftrag. Es ist der einfachste Weg zu sehen, wie ein Fremdkörper in seinem Umfeld wirkt«.

 

Manche Bilder zeigen bis zu fünf verschieden Eitempera-Techniken: Farbauftrag mit den Fingern, mit der Bürste oder mit dem Pinsel, mal altmeisterlich getupft, mal großzügig verspritzt. Dieser Katalog der Techniken erinnert mich an den Bildtypus der gemalten Bildergalerie, nur dass sich eben statt der Werke dicht und dekorativ arrangierte Bildteile vor mich hindrängen.

 

Dass Giraffen von Österreich in die Ukraine importiert werden müssen, und nicht umgekehrt, das lässt sich übrigens statistisch belegen. Am 6. Juni 2009 hat der norwegische Designer Ola Helland mit seinem Freund Jørgen die fantatische Wette abgeschlossen, bis zum Jahr 2011 eine Million handgemalter Giraffen auf einer Website zu versammeln. Es ging bei dieser sympathischen Wette darum, die Potenz des weltweiten Kommunikationsmittels Internet eindrucksvoll unter Beweis zu stellen.

 

Schon 440 Tage später hatte es Helland mit der Hilfe von freiwilligen Zeichern aus 102 Ländern der Erde geschafft. Die absolut größte Kollektion von Giraffenbildern der Menschheit wächst seither im Netz immer noch weiter. Derzeit können 231 Exemplare aus dem österreichischen Wien und nur eines aus 1 einziges Exemplar aus dem ukrainischen Zhitomir bestaunt werden. Nach dem Sommer dieses Jahres wird das bestimmt anders sein.

 

(Ende der Serie)

 

© Wolfgang Koch 2013

 

http://www.walkensteiner.at/

http://www.onemilliongiraffes.com/

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DAS UNGLAUBLICHE JUBILÄUMSJAHR DES HERMANN NITSCH

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Hermann Nitsch: Brot und Wein, Tempera und Dispersion auf Wandverputz, 150 x 150 cm, 1960, Sammlung Hummel, Wien / Foto: M. Thumberger

2013 feiert der österreichische Künstler und Theaterneuerer Hermann Nitsch, dessen einstiger Mitstreiter aus den Tagen des Wiener Aktionsimus Otto Muehl gestern verstorben ist, seinen 75. Geburtstag. Das Jubiläumsjahr begann für ihn gleich mit einem dramatischen Schicksalsschlag. Während nämlich bei seinem deutschen Malerfreund Georg Baselitz im Mai nur die Steuerfahnder in dessen Villa am Attersee eindrangen, hat in Schloss Prinzendorf im Weinviertel eine professionelle Einbrecherbande vermutlich den Coup ihres Lebens gelandet.

 

Anfang März, und zwar am Tag der Regionalwahlen in Niederösterreich, an dem gewöhnlich die Landeier in Scharen zur Urne schreiten, drangen Unbekannte in den Wohn- und Ateliersitz des Künstlers ein und erbeuteten nicht weniger als 400.000 Euro in bar und Schmuck im Wert von weiteren rund 100.000 Euro.

 

Dieses beträchtliche Vermögen hatte Nitsch für ein weiteres Sechstagspiel des Orgien Mysterien Theaters im Jahr 2014 angespart. Er finanziert seine teils mehrtägigen Aktionsspiele bekanntlich immer aus der eigenen Tasche sowie mit Hilfe von freiwillig mitwirkenden Studenten und Kunstfreunden.

 

Die österreichischen Medien hatten anlässlich des Einbruchs nicht die geringsten Skrupel, den international geschätzten Künstler mit Hohn zu verziehen; wochenlang verwiesen Kommentare und Leserbriefe darauf, dass die kriminelle Bande keine Kunstwerke aus seinem Schloss hatten mitgehen lassen.

 

Dabei ist es auch dem Laien klar, dass sich Nitschs ikonenhaften Schüttbilder als Diebsgut am Kunstmarkt genauso wenig zu Geld machen lassen wie seine einprägsamen Architekturzeichnungen oder Partiturskizzen. Für solche Arbeiten käme nur Art Napping in Frage, also eine Erpressung des Bestohlenen; und das hat in Österreich, seit einem missglückten Versuch nach dem Raub der Saliera aus dem Kunsthistorischen Museum 2003, nie wieder ein Ganove versucht.

 

Nichtsdestotrotz ergießt sich die Häme immer weiter über Nitsch. In der öffentlich-rechtlichen ORF-Sendung »Willkommen Österreich« ätzte das Comedy-Duo Stermann & Grissemann vor schenkelklopfendem Live-Publikum, der Künstler habe sich beim Einbruch in sein Schloss vor Angst in die Hose geschissen und diese dann anschließend an das MUMOK verkauft [Stermann & Grissemann gelten bei österreichischen Chefredakteuren als mutige Entertainer, seit sie eine Teilnehmerin des Songcontests 2012 auf FM 4 als »Altfut« abkanzelten].

 

Für den weiteren Verlauf von Nitschs künstlerischer Karriere sind die Folgen des Einbruchs noch immer nicht abzusehen. Das traditionellen Pfingstfest in Prinzendorf musste ebenso abgesagt werden wie eine große, in Berlin geplante Aktion im Sommer.

 

Ein erstes freudiges Überlebenszeichen gab der Künstler mit einem Relaunche des Nitsch Museums Mistelbach (NMM). Und nicht storniert wurde auch das Dreitagespiel am 21. und 23. Juni im Centraltheater in Leipzig – Nitsch erste Live-Aktion im Osten Deutschlands überhaupt.

 

Bei der 55. Biennale Venedig wird Nitsch heuer in gleich zwei Gruppenausstellungen vertreten sein, wobei ihm erstaunlicherweise die kubanische Nation einen prominenteren Platz als seine Heimat Österreich einräumt.

 

Österreich, das Nitsch längst als Alleinvertreter nach Venedig hätte schicken können, wird einige seiner Werke in der Schau »Personal Structures« im Palazzo Bembo zeigen. Kuba hingegen präsentiert eine Ausstellung unter dem Titel »Die Perversion des Klassizismus: Die Anarchie der Erzählungen« bei der diesjährigen Biennale, und Hermann Nitsch wird dabei in den Räumen direkt an der Piazza San Marco Schüttbilder, Aktionsfotos und Relikte der 135. Aktion in Havanna den antiken Artefakten und Skulpturen des Museo Archeologico gegenüber stellen.

 

(Wird fortgesetzt)

 

© Wolfgang Koch 2013

 

http://www.nitsch.org/index-de.html

 

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DER NEUE BRECHT IN LEIPZIG HEISST HERMANN NITSCH

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Hermann Nitsch: Oedipus, 1990 (30 cm hoch, Gips, Mullbinde, Ölfarbe), Sammlung Hummel, Wien / Foto: M. Thurnberger

Als am 8. Dezember 1923 Bertold Brechts expressionistisches Drama Baal im Alten Theater in Leipzig seine Uraufführung erlebte, war augenblicklich die Hölle los. »Das Theater glich einem Schlachtfeld, als der Vorhang endlich, endlich fiel«, berichteten die Neuesten Nachrichten anderntags: »Zwei Heerhaufen tobten wild gegeneinander. Ich habe die Leipziger nie so völlig außer sich gesehen… Man pfiff und schrie, warf sich Beleidigungen an den Kopf, und wenig fehlte, so hätten Hitzköpfe sich ihre gegenteilige Meinung gegenseitig mit Fäusten demonstriert«.

 

Vieles von dem, was man Brechts antiillusionärem Schauspiel damals öffentlich vorwarf – dass es eine »Pubertäts-Kraftorgie« sei, dass sich darin »Sinnlichkeit ohne Maß« ausgetobt habe, dass auf der Bühne eine um Schnaps und Erotik kreisende »Knabenphantasie entfesselt« worden sei –, stimmt vollkommen mit den Vorwürfen überein, die seit nunmehr fünf Jahrzehnten auf das Orgien Mysterien Theater herabprasseln.

 

Dabei ist Hermann Nitschs Mythenarchäologie doch in jeder aktionistischen Version auf die Bewusstmachung von Sinnlichkeit ausgelegt, Rauschzustände sollen mit großer Zurückhaltung inszeniert, die Exstase als höchste Steigerung der Selbstkultivierung erlebt werden. Dem österreichischen Künstler liegt nichts an Provokation. Er wolle immer nur eine Kunst machen, betont er, die erschüttert.

 

Die Geschichte der großen Spiele des Orgien Mysterien Theaters reicht ein halbes Jahrhundert zurück. Die ersten Ideen und Entwürfe für ein mehrtägiges Aktionsspiel stammen aus dem Jahr 1957. Doch erst bei seiner 40. Aktion in New York 1972 gelang es Hermann Nitsch das Geschehen mit nackten Körpern, Farben und Gerüchen auf zwölf Stunden auszudehnen und die Dramaturgie zu einem Fest mit musikalischen Darbietungen, kulinarischen Genüssen und Spaziergängen in der freien Natur auszuweiten.

 

1974 folgte dann als 50. Aktion das Eintagespiel in Schloss Prinzendorf, dem nun eine Partitur des ersten Tages und der ersten Nacht des geplanten Sechstagespiels zugrunde lang, das also 24 Stunden lang dauerte.

 

Der nächste Schritt war das Dreitagespiel 1984 (80. Aktion). Doch erst weitere 14 Jahre später, 1998, konnte Nitsch sein bisher einziges vollständiges Sechstagespiel realisieren. Es wird im Werkverzeichnis als 100. Aktion geführt.

 

2004 folgte als 120. Aktion ein Zweitagespiel in Schloss Prinzendorf. 2005 die 122. Aktion im Wiener Burgtheater, die nur einen kühlen Abend lang dauerte. Auch die spektakukuläre 135. Aktion im Juni 2012 unter tropischen Palmen auf der Biennale Havanna zählt nur als umfangreiche Lehraktion. Im Grund genommen ist das Dreitagespiel in Leipzig also erst die vierte mehrtägige Realsierung des Orgienmysteriums, und nach dem Beginn im New Yorker Mercer Art Center 1972 das zweite Spiel außerhalb der Mauern von Schloss Prinzendorf überhaupt.

 

Wenn Nitsch nun Ende Juni den Weißwurstäquator gen Norden überschreitet, kommt er nicht alleine. Als Dirigent wirkt der in London lebende Italiener Andrea Cusumano in der Leipziger Festspielarena. Aktive und passive Akteure des Dreitagespiels werden noch bis zum 18. Juni gecastet und proben dann vier volle Tage unentgeltlich bis zur Aufführung.

 

Muss eine Zeit, in der religiöse Eiferer ihr menschliches Hassobjekt mit dem Fleischermesser abschlachten und dann mit bluttriefenden Händen vor die Kamera treten, wie dieser Tage  zum allgemeinen Entsetzen in London geschehen, nicht einen besonderen Ekel vor Fleisch und Blut hervorrufen? Muss denn wirklich noch künstlerisch an einer Ästhetik des Hässlichen gearbeitet werden, wenn sich Grausamkeit dreist und obszön auf der Straße in Szene setzt?

 

Die Antwort ist: ja. Man wird in der Gegenwart keinen Künstler finden, der ernsthafter als Nitsch an einer Theorie der vermischten Empfindungen arbeitet, an intensiven Gesamtkunstwerken, in deren Poesie sich die Hässlichkeit der Form gänzlich verliert.

 

Für Nitsch ist es das Außerordentliche des dioysischen Festes, das dem Leben Sinn und Bedeutung verleiht. Er formuliert damit eine geradezu athletische Haltung der Kultur und des friedlichen Zusammenlebens, die sich mutig mörderischen Possenreißern wie Anders Behring Breivik (2011), Michael Adebolajo und Michael Oluwatobi Adebowale (2013) entgegenstellt.

 

(Wird fortgesetzt)

 

© Wolfgang Koch 2013

 

http://www.nitsch.org/index-de.html

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NITSCH MUSEUM VERDÄCHTIGT DEN EIGENEN KÜNSTLER DER PORNOGRAFIE

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Hermann Nitsch: 31. Aktion, München 1969 / Angaben zum bearbeiteten Foto im Katalog »Hermann Nitsch. Sinne und Sein« (Metroverlag): L. Armbruster, L. Hoffenreich, K. Nievers, Atelier Nitsch, M. Thumberger, Vintageprint auf Holzfaserplatte

Hermann Nitschs malerische, musikalische und theatralische Arbeiten als Kunstwerke rechtfertigen zu müssen, ist unnötig; ihr künstlerischer Rang steht in der Kunstszene seit Jahrzehnten nicht mehr zur Debatte. Dass nun dieser Tage ausgerechnet das Nitsch Museum Mistelbach eine Retrospektive zeigt und im dazu aufgelegten Katalog sexualästhetische Aktionsfotos aus dem Jahr 1969 schamhaft verpixelt, das lassen wir allerdings nicht als gut gemeint durchgehen.

 

Die neue Halbjahresschau unter dem Titel »Sinne und Sinn« zeigt im Nitschmuseum eine Reihe von sehr wichtigen Arbeiten des Künstlers aus der Sammlung Hummel, darunter die 1960 auf Wandverputz entstandene Temperamalerei Brot und Wein, sowie mehrere, dreißig Jahre später spektakulär mit Mullbinden und Ölfarbe bearbeitete Gipsobjekte, ebenfalls aus der Sammlung Hummel.

 

Geteilter Meinung dürfte das Publikum über eine Großprojektion in der »Kapelle« des Museums sein, die in Kooperation mit der Ars Elektronica zustande kam. Nitsch hat ja schon vor 15 Jahren festgestellt, dass ihn die »Direktheit und Signalhaftigkeit« von Video-Clips verblüffen. Im neuen Projektionsraum des Museums ist nun die Arbeit mit sinnlich erfahrbaren Wirklichkeiten, zu der Nitsch ja einst angetreten waren, dem kalten Berühren eines Touchscreens gewichen, wobei der Betrachter durch wischende Fingerbewegungen hochauflösende Zeichnungen und Fotos vor sich auf der Wand übereinanderschichten kann.

 

Mit etwas gutem Willen geht das schon in Ordnung, mit etwas gutem Willen verrät auch dieses technisch verspielte Installation das Realitätsprinzip des Orgien Mysterien Theaters nicht. Die Projektionen radikalisieren quasi das grafische Prinzip der Collage, wie es im umfangreichen druckgrafischen Werk von Hermann Nitsch seit Jahrzehnten seine Anwendung findet.

 

Einen unverzeihlichen Fauxpaus jedoch leistet sich Kurator und Herausgeber Michael Karrer im Katalog des Museums. Jeden Kenner dieses Œvres  muss vollkommen klar sein, dass bestimmte frühe Aktionsfotos nicht vor jedem Publikum beliebig ausgebreitet werden können. Im Unterschied zur Pop Art lassen sich im Aktionismus Schaueffekte nun einmal nicht von ihrem kunstphilosophischen Hintergrund ablösen.

 

Erotisch und religiös konnotierten Werke verlangen ein fundiertes Vorverständnis vom Betrachter. Man kann, um dieser Kunst intensiv zu begegnen, sie nicht nur vom Hörensagen kennen – der Museumsbesucher muss behutsam mit ihrer Logik vertraut gemacht werden, die sich wiederum innerhalb der symbolischen Ordnung bewegt.

 

Zu diesem Zweck eignen sich am allerwenigsten Maßnahmen der Selbstzensur. Wer eine künstlerische Arbeit zensuriert, indem er sie ganz oder teilweise unkenntlich macht, handelt im Ausstellungsbetrieb absolut fahrlässig, denn durch Zensurbalken setzt er die Werke ja gerade den Vorwürfen aus, vor denen er sie behüten will: im Fall der 31. Aktion von Hermann Nitsch vom 8. Dezember 1969 sind das die Vorwürfe der Pornografie und der Blasphemie, von denen sich diese Bilddokumente gerade eben Kraft ihrer Definition als Kunst frei gemacht haben.

 

Es stimmt schon, dass Pornografie von ihrer Geschichte her auch einmal einen durchaus emanzipatorischen Zugriff beanspruchen konnte. Von den Dramen des Marquis de Sades über Josefine Mutzenbacher bis zu Pierre Molinier attackierten sexuelle Symbole und Inhalte die sentimentalen Körperbilder als Ideologie, entkleideten die animalischen Triebe des Mernschen ihrer süßlichen Verklärung und zeigten sie nackt. 

 

Doch diese Entkleidung des Körpers war weitgehend mit dem männlichen Blick liiert. Nitsch kennt in seinen sexualästhetischen Arbeiten keinen aufklärerischen Anspruch, der ein normiertes Körperbild attackiert.  Er will auch nicht die Wahrnehmung von Schönheit oder Hässlichkeit erweitern, sondern sie einfach intensivieren.

 

Was also will das Museum Mistelbach in dieser Lage bezwecken, wenn es nun Aktionsfotos rückwirkend dem Pornovorwurf aussetzt?

 

Der sexualisierte Körper ist heute für pornografische Aufklärung absolut nicht mehr tauglich. Das hat erst vor wenigen Tagen Richard Schubarth am Beispiel des Berliner Protestes gegen den Barbiekult in der Tageszeitung Der Standard bestätigt: die Überbabes der Femen, so Schubarth, die ja nicht gerade aussehen wie ukrainische Durchschnittsbäuerinnen, protestieren vor dem Barbie-Museum eigentlich gegen sich selbst. Wer sich für feministische Botschaften mindestens einmal ausziehen muss, um mit Edelbusen Aufmerksamkeit zu erregen, kann sich die Slogans gegen die Konfektionierung des Körpers gleich sparen.

 

Mit der Formensprachen der politischen Selbstentblößung in Berlin und mit die Pornofizierung der Kunst durch Selbstzensur in Mistelbach kuriert man keine Mängel, sondern schafft neue, die man vorher noch gar nicht hatte.

 

(Wird fortgesetzt)

 

© Wolfgang Koch 2013

 

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WIE SCHWER SICH DIE GEGENWART MIT BILDERN VON GESTERN TUT

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Hermann Nitsch: 31. Aktion, München 1969 / Angaben zum bearbeiteten Foto im Katalog »Hermann Nitsch. Sinne und Sein« (Metroverlag): L. Armbruster, L. Hoffenreich, K. Nievers, Atelier Nitsch, M. Thumberger, Vintageprint auf Holzfaserplatte

Der neue Dilettantismus des Nitsch Museum Mistelbach beschränkt sich nicht auf die Zensur von Aktionsfotos. Die in Wien lebende Hanel Koeck, das weibliche Modell der legendären 31. Aktion von 1969, nennt die Bearbeitung der Bilder im Museumskatalog eine »unverschämte Manipulation« – unverschämt aus zweierlei Gründen:

 

Erstens, weil die Verfremdung der Abbildung praktischen allen wissenschaftlichen Standards bei der Dokumentation von Aktionskunst widerspricht, und zweitens, weil dabei auch noch die Autorenschaft der Fotos selbst vernebelt wird, wie Koeck sagt.  

 

Der Museumskatalog zählt nicht weniger als fünf Namen in der Bildlegende auf: Armbruster, Hoffenreich, Nievers, Nitsch und Thumberger (siebe oben). Rechtlich gesehen liegt das Copyright am Aktionsfoto seit dem Tod des Fotografen Ludwig Hoffenreich zu gleichen Teilen beim Künstler Hermann Nitsch und bei Hanel Koecks Partner, dem Kunsthistoriker und theoretischen Wegbegleiter des Wiener Aktionismus Peter Gorsen.

 

Koeck und Gorsen sind seit Jahren im Besitz der zirka 300 Originalaufnahmen der Münchner Aktion und ihre Rechte wurden bei der Wiedergabe der Bilder im Katalog schlichtweg übergangen. Das kunstsinnige Paar hätte der kuriosen Selbstbezichtigung von Verlag und Museums sicher nicht zugestimmt.

 

Die 31. Aktion im Atelier Zimmer in München soll mehr als zehn Stunden lang gedauert haben, sie war für die Öffentlichkeit nicht frei zugänglich. Es waren damals in zirka 20 Personen als Zuseher und Akteure anwesend, darunter der heute vielgeehrte Filmemacher Peter Kubelka und der Übermaler Arnulf Rainer, dem in Niederösterreich seit 2009 ebenfalls ein Künstlermuseum gewidmet ist.

 

Nitsch hat in späteren Jahren wiederholt erklärt, er sei »in erotisch-sexueller Hinsicht« bei keiner Aktion wieder so weit gegangen wie an diesem Dezembertag in München. Dem Geschehen lag eine Partitur zugrunde, an der das weibliche Modell direkt mitgewirkt hat. Das war für die männlich dominierte Kunst des Wiener Aktionismus mehr als ungewöhnlich.

 

Unter Punkt 19 zum Beispiel heißt es im Regiekonzept: »Hanel steckt mir mehrmals den künstlichen Penis tief in den Mund, bis ich nahe daran bin zu erbrechen. Während sie mir den Penis in den Mund stößt, werden dieser und mein Kopf aus einem Kelch mit Blut und aus anderen Gefäßen mit Eidotterschleim beschüttet«.

 

Nitsch trug bei dieser Ekeldusche ein schwarzes Messgewand mit applizierten Weintrauben, schon nach kurzer Zeit kamen auch Gedärme und stark riechende Teerosen mit ins Spiel, am symbolischen Höhepunkt der Aktion tropfte Blut und Schleim über Koecks aufgeklafftes Geschlecht in einen Messkelch.

 

Im Kunstbetrieb werden solche Schockbilder, die sich ja nur kategorial von denen heutiger TV-Shows wie Dschungelcamp unterscheiden, weder Kindern noch unvorbereiteten Erwachsenen gezeigt, und die Selbstzensur im Museumskatalog scheint diesem Prinzip ja irgendwie Rechnung zu tragen. Doch das scheint eben nur so. Vor Ort in Mistelbach, da passt nämlich einfach überhaupt nichts mehr zusammen.

 

In der Restrospektive werden die Aktionsbilder unverpixelt präsentiert, und zwar Tür an Tür mit einer Schau über Punchkrapfen und Gugelhupf (»Süße Lust – Geschichte der Mehlspeise«). Auf der Website des Museums bewirbt man im Moment eine Halloween-Party im Haus. Und es bestehen keinerlei Zugangsbeschränkungen für die Nitsch-Säle; Kinder bis zehn Jahre in Begleitung der Erziehungsberechtigten zahlen ausdrücklich nichts.

 

Hier, in der Museumspublikation also eine betonte Vorsicht, eine kontraprodukrtive Überkorrektheit, die Nitschs künstlerische Positionen kuratorisch ad absurdum führt, und da, im Museumszentrum selbst ein geradezu fröhliches Chaos aus Lebensmittelgeschichte, dem Blut der Verwandlung, aus Starkult und Familienerlebnis.  – Nein, die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang …

 

(Wird fortgesetzt)

 

© Wolfgang Koch 2013

 

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WIE ANTWORTET KUNST AUF DIE PORNOFIZIERUNG DER ÖFFENTLICHKEIT?

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Hermann Nitsch: 20. Aktion, Wien 1966 / Foto: G. Helm, Atelier Nitsch, M. Thumberger, Vintageprint auf Leinen

Der Pixelbalken über Aktionsfotos von Hermann Nitsch widersteht der Pornofizierung nicht, sondern ist ein Ausdruck tiefer Ratlosigkeit. Diese neue Form der Selbstzensur konstituiert einen eigenständigen Bereich der Erotika in der Kunst, die wegen der in ihnen dargestellten Sexualität Anstoß erregen könnte. Entspricht das noch der historischen Wahrheit dieser Werke?

 

Es ist richtig, dass die Dokumente performativer Kunst aus den 1960er- und 1970er-Jahren selbstständig am Kunstmarkt bestehen können, in der Rezeption aber dürfen sie nie aus ihrem Entstehungskontext gelöst werden.

 

Peter Gorsen, der bedeutendste Theoretiker des Wiener Aktionismus, kritisierte bereits vor dreißig Jahren einen fatalen Hang der westlichen Öffentlichkeit zur »Scheinsexualität«, also dazu, die nicht sexuell intendierten Kommunikation mit bestimmten sexuellen Signalen der Körpersprache auszustatten. Diese pornografische Kommunikation der westlichen Kultur hat sich seither epidemisch über den gesamten Globus ausgebreitet, hat die islamische Reaktion der Verschleierung mithervorgerufen und sie kehrt nun als politisch-korrekte Prüderie in den Kunstbetrieb zurück.

 

Das Erstaunliche ist, dass man an verschieden Ecken der Erde sehr unterschiedlich auf die Pornofizierung der Bildkultur reagiert. Während der indonesische Popmusikstil Dangdut den enthemmten, »bohrenden« Hüftschwung zum Markenzeichen einer Ästhetik des Exzesses macht, verschanzt sich die Hochkultur im niederösterreichischen Mistelbach schamhaft hinter Pixelbalken.

 

Natürlich ist es möglich, das Orgien Mysterien Theater ein Programm der umfassenden Sexualisierung der Welt zu nennen, doch die darin enthaltene sexuelle Symbolik bleibt immer primär Seinsmystik, eine Vergegenwärtigung der Kontingenz, das Bewusstmachen des Anders-Sein-Könnens der weltlichen Dinge. Der aktionistisch verwertete Nacktsport wird dabei weder unverbindlich symbolhaft noch hermeneutisch unverständlich, und vor einer elitären Aussage über die letztmögliche Abwesenheit eines Grundes – das Grundlose – muss niemand geschützt werden.

 

Was sonst könnte der Sinn sein, Ungesehenes und Unerhörtes zu zeigen, nackte Körper mit Fleisch, Blut und Gedärmen zu kombinieren und quasi rituelle Handlungen zu vollziehen? Um die schreckliche Lust des Augen an den imaginären Vorstellungen von peinigenden und gepeinigten Menschen zu durchkreuzen, verlangt Nitsch einen individuellen und kollektiven Prozess der Selbstkultivierung.

 

Nehmen wir zum Vergleich die rosigen Hautinkarnate bei Peter P. Rubens, in denen zwischen Verdrängung und Wiederbelebung zirkulierende traumatische Erregungszustände eingefroren sind und durch die Kunstgeschichte transportiert werden. Auch in den Aktionen von Nitsch wurden und werden solche Energiekonserven reaktiviert, um die Realität der Einschüchterung durch Repräsentationen erahnbar und diskutierbar zu machen.

 

Die ästhetische Weltverbesserung des Orgien Mysterien Theraters zielt auf Daseinskompetenz, auf das ethische Vertrautsein mit den Grundregeln des Zusammenlebens, auf ein Geistesgegenwärtig-Sein im Dazwischen der menschlichen Beziehungen. Weiters auf ein Innehaltenkönnen im Exzess, um die Fülle des Daseins bewusst zu erleben.

 

Dank solcher, anspruchsvoller Motive können bestimmte Werkteile, unter Bedacht und mit kunsthistorischer Sorgfalt, nur dort gezeigt werden, wo mit einem kunstsinnigen und philosophiewilligen Publikum zu rechnen ist. Das Marketing eines jeden Ausstellungshauses wird solchen Bemühungen naturgemäß in die Quere kommen.

 

Um das Nitsch Museum zu bewerben, braucht es natürlich Bücher und Plakate, Videos und CDs sowie Merchandising-Produkte: vom beliebten Weinviertler Strohhut über Kunstwein im Doppler bis hin zu bedruckten Badetüchern. In der Bundeshauptstadt Wien finden sich überdies erste Schüttmalereien von Hermann Nitsch auf Hauswänden appliziert.

 

All diese Verkaufshilfen der Museumsshops und die Popularisierungsversuche am Bau scheinen einen schier endlosen Raum für dieses Werk zu eröffnen. Doch man täusche sich nicht. Ganze Werkblöcke – die komponierten Symphonien, die philosophischen und die literarischen Schriften sowie eben die Aktionsfotografien und -filme – werden einem breiten Publikum immer verschlossen bleiben.

 

Die Aktionsfotos werden immer eine Gratwanderung auf der Toleranz- und Schamgrenze bleiben, haarfein gezogen zwischen Abbild und Körper. Die Schamlosigkeit diser Bilddokumente macht ja in anhaltender Verkehrung den Betrachter zum Voyeur, der sich entweder beim Ertapptsein ertappt fühlt oder eben die Flucht in die Schamhaftigkeit antritt.

 

Auf diesem Feld durch das Verpixeln der Vagina eine neue Grenze einzuziehen, während der Penis unzensiert bleibt, bringt uns wirklich zum Schmunzeln. Dem neuen Gesamtleiter des Museums, dem Salzburger Kunsthändler Michael Karrer ist die »Selbstfindung in einer hektischen, kommerzialisierten Erlebnisgesellschaft« ein besonderes Anliegen. Nach der ersten Kostprobe seiner »Erforschungen« lässt sich nur sagen: In Mistelbach werden neuerdings Manipulationen vorgenommen, die nicht nur den kunsthistorischen Rang eines Lebenswerkes gefährden, sondern auch dem Verständnis der Kunst insgesamt keinen guten Dienst erweisen.

 

(Ende der Serie)

 

© Wolfgang Koch 2013

 

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Wie Alexander Kreise noch einmal das Kino erfindet

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Apparat1

Die Beziehungen zwischen Augsburg und Wien dürften bis zur Schlacht auf dem Lechfeld im Jahr 955 zurückreichen, nach deren Niederlage die feindlichen ungarischen Reiter Gebiete des heutigen Österreich räumten. Seither haben immer wieder kluge Köpfe aus dem Südwesten Bayerns eine Liebe zur Donaustadt entwickelt, aber selten einer so hartnäckig wie der Künstler und Kunstvermittler Alexander Kreise alias Alexander Nickl.

 

Nach einer langen Serie von Interventionen, Mentagrammen und Neoprojektionen wandte sich der öffentlichkeitsscheue Alexander Kreise in den letzten Jahren immer stärker der Miniaturisierung von Innenraumprojektionen zu. Das war nach seiner bisherigen künstlerischen Laufbahn nur konsequent.

 

Die drei neuen, in Salzburg gefertigten Apparate haben die Größe von Sperrholzkästen. Ihr Inneres dient dazu, tausende Handzeichungen früherer Werkphasen als »geistige Bewegungsprozesse« zu visualisieren. Kreise träumt hier den populären Traum der Gegenwart, einen unbekannten Code des menschlichen Bewusstseins im Gehirn zu entschlüsseln – doch er träumt diesen Traum intensiver, poetischer als die Hirnforscher, deutlich von Gerätschaften im Wiener Pratermuseum inspiriert.

 

Blickt man durch das gläserne Einfachokular in das Innere der Sperrholzkästen, zeigen sich tanzende Figuren auf rotierenden Scheiben vor der Projektionsschleife von 500 Mentagrammen. Jedes Werkel arbeitet in einem 240 Volt Netz- und Akubetrieb, um das Schaufeld des Betrachters nach innen zu öffnen. Die bewegte Szenerie wechselt durchschnittlich alle drei bis vier Sekunden.

 

Alexander Kreise wünscht, seine Hirndecke schonungslos vor dem Betrachter aufzuklappen. »Reine Visualisierung ist mir zu wenig. Bild und Ton gehören zusammen, weil ja ein Klang im Bild selbst schon enthalten ist«.

 

Foto: Labor 47

Von Guckkästen fasziniert, sperrt dieser Künstler das Licht heute ein, um Zeichungen und Bilder eines ganzen Jahrzehnts immer neu zu arrangieren und abzuspielen. Was für ein erstaunlicher künstlerischer Prozess: von den Monumentalarbeiten an den Fassaden von Barockkirchen,  Schlössern und Museen, über Projektionen in Öltanks, Gaslagern und in einem Atomkraftwerk hin zu technisch raffinierten Häkeleien mit zartem Licht in einer Holzbox.

 

War das nicht einmal die dunkle Abkunft des Kinos vom Jahrmarkt: dieses anonyme, bevölkerte, wimmelnde Schwarz im Gestank der Hinterhöfe, die Steigerung der Sinne im unheimlichen Schein einer Sonnenfinsternis? War das nicht einst die berühmte Atmosphäre des kollektiven Filmerlebens, bevor sich das Kino in Unterhaltungsmaschinen verwandelte und eine grausame Abfertigungsatmosphäre an einem Ort der Ästhetik einzog?

 

Im leuchtenden Staubwirbel des Projektionsapparates, da erkannte der Kinogeher früher die anderen Gestalten im Zuschauerraum. Wer in Alexander Kreises kleine Lichtforen blickt, wer sein leuchtendes Minimundus betrachtet, wird gelegentlich ein paar Kühe entdecken. Auf sie hat der Künstler 2008 in einem Stall im Allgäu erbarmungslos seinen Scheinwerfer gerichtet und die Tiere damit eingesaugt. Jetzt grasen sie auf Zentimetergröße geschrumpft friedlich im Sperrholzkasten.

 

© Wolfgang Koch 2013

 

Abbildungen: Der Alexander-Mentagraph I / Labor 47

 

Foto: Labor 47

 

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DER NEUERLICHE ZEITSPRUNG DURCH DEN ISLAMISTISCHEN TERRORISMUS [f]

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Der sich selbst austragende Westen / Foto: W. Koch

Dass ein Kunstwerk »modern« oder »reaktionär« sei, ist eine chronometrische Aussage. Nach 700 Jahren muss es meines Erachtens gar nichts mehr sein, was sich irgendwie adjektivieren liesse. Allein, wenn es gut war, also immer noch gelungen dasteht, und auch im neuen Zeitkontext prima funktioniert, ist es gut.

 

Langlebigkeit war für Ernst Jünger ein Gleichnis, doch ein Gleichnis wofür? Die Steinkreise von Stonehenge im Süden Englands zum Beispiel, die vermitteln uns heute die Bedeutung der Sesshaftigkeit für den Menschen. Erst die Bauern des Neolithikums können über genügend Zeit verfügt haben, solche aufwändigen feste Plätze für kultische Zwecke zu gestalten.

 

Wofür steht nun die Langlebigkeit der verspäteten Romanik? Nach Walter Seitter zählt die »europäisch-lateinische Romanik« zu einem größeren Kulturkreis, der einst weit bis nach Afrika und Asien reichte und dessen historisches Zentrum Konstantinopel hieß.
 
 
Dieser Gemeinschaftsleistung gegenüber stand der gotische Bruch, und den gab es nur in Westeuropa. Der Kirchenbau verstieß Tierbilder und Krypten aus seinen Mauern. Eine schwebende Eleganz gleichförmiger Glieder zog als ästhetisches Prinzip ein. Skulpturen emanzipierten sich von der Wand. Chimären wichen, wie von Zauberhand, dem Blatt- und Blütenkapitell. Aus Konstaninopel aber wurde im Gegenzug ein unbewegliches, monistisches »Byzanz«; westeuropäischen Kreuzfahrer zwangen unter der Führung der Republik Venedig der eroberten Stadt ein »lateinisches Reich« auf.
 
 
Chimärenheimat, ohne praktische Vorbildfunktion. An der Spitze der Kapitalen stand fortan Paris. Wie einst die Akropolis nach dem Niedergang Athens stehen geblieben war, um die ansässigen Kulte weiterzuführen, taugte auch Byzanz nur mehr als religiöse Weihestätte.
 
 
In diesem Sinn interpretiert der forschende Philosoph Seitter die Gotik als »die erste Selbstaussage des Abendlandes« mit einer homogenen Formensprache. Der Westeuropäer hatte sich vom Mittelmeerraum ästhetisch und moralisch losgesagt, ein atlantisches Zeitalter hob an, schwelgte in Farben, Licht und Anmut.
 
 
Seitter spricht hier von einer »stupenden Umdrehung der Geokinetik«. Denn die Sonne mochte weiterhin im Osten aufgehen, Tag für tag, das Licht des Fortschritts aber brach sich genau umgekehrt Bahn. Die nordwestlichen Völker, keltische und germanische, hatten seit dem 8. Jahrhundert eine derartige Beweglichkeit und Geschwindigkeit entwickelt, dass das Deutsche Reich von Irland und England aus christianisiert worden war.
 
 
Die zweite Welle wehte nicht mehr als sanfte Westbrise heran. Nach Spanien und England emanzipierte sich nun auch das Frankenland von Rom. Dem gegenüber hingen die deutschen Länder weiter am Stuhl Petri und den Insignien der Antike, kamen nicht los von den ständigen Kaiser-Papst-Konflikten. Wenn im 13. Jahrhundert also noch in der alten Bauform Gebäude errichtet wurden, analysiert Seitter, so hielt man in Zentraleuropa wohl aus Gründen der symbolischen Kontinuität daran fest.
 
 
Laut dieser neuen westlichen Kosmologie aus Wien verschob sich im 13. Jahrhundert die mediterrane Zentrierung zu einer atlantischen Orientierung, die Seitter konsequenterweise »Okzidentierung« nennt. Und dieser Autor wäre kein politischer Denker, wenn er daran nicht wenigstens noch eine kleine Spekulation anschlösse.
 
 
Nach dem Zusammensturz des Word Trade Center am 11. September 2001, so Seitter, hätten tagelang »nur gotische Gitterstücke« in den Himmel geragt. Die Selbstmordattentäter hätten die »gotische Struktur der beiden Türme freigelegt«.
 
 
Waren also diese Dschihadisten von 2001, die Brüder der Salafisten von heute,  wirklich die fernen Abkömmlinge einer »reaktionären Romanik«, deren größerer Kulturkreis einst bis in die Herrschaftsgebiete des Islam hinein ausgestrahlt hatte?
 
 
Gewiss, auch wenn Seitter diese spannende These nur am Rande vorträgt, so hat er sich damit doch weit von seiner anfänglichen Trigonometrie der Steine entfernt. Er ist nun kein »monumentarischer Archäologe« mehr, der zu der Sprache der Formen reist. Er spekuliert und sitzt wie weiland Jean Baudrillard fasziniert vor dem Bildschirm.
 
 
Macht nichts! Im Vergleich mit den Delirien der Verschwörungstheoretiker in den Nullerjahren wirkt Seitters gewagte Spekulation über die »Zeitsprünge« in der Zivilisationsentwicklung des Westens immer noch sympathisch bescheiden.
 
 
© Wolfgang Koch 2012
 
 
Walter Seitter: Reaktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik, 139 Seiten, ISBN 978 3 85449 361 7, Wien: Sonderzahl 2012, 18,- EUR
 
 
TEILE DER SERIE [a-f]:
 

St. Stephan und das höhere Verlangen des Augenblicks

Was zum Teufel ist »Reaktionäre Romanik«?

Der unvermeidliche Ausflug der Wiener nach Schöngrabern

Makro-Historie am Beispiel der Wiener Stephanskirche

Walter Seitters weltgeschichtliche Wiederaneignung des Westens

Der neuerliche Zeitsprung durch den islamischen Terrorismus

 

 

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ÖSTERREICHS NEUTRALITÄT VERPFLICHTET ZUR ABRÜSTUNG

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Hätte die österreichische Bundesregierung ihre neue Sicherheitsdoktrin erst vom Nationalrat absegnen lassen müssen, bevor sie eine Volksbefragung zum Thema Wehrpflicht vom Zaun brach? Gewiss, diese Kritik ist berechtigt, doch in der seit September 2011 vorliegenden Synopse der Regierung heißt es wörtlich:

 

»Konventionelle Angriffe gegen Österreich sind auf absehbare Zeit unwahrscheinlich geworden«. Das ist eine klare Absage an die territoriale Landesverteidigung, und ein lautes Bekenntnis dazu brächte die gesamte ÖVP-Propaganda zur Volksbefragung ins Wanken.

 

Unrecht haben alle jene in Österreich, die in dieser Befragung einen Missbrauch des direktdemokratischen Instruments wittern. Man sollte vielmehr der Regierung Faymann zu ihrem unerschrockenen Mut gratulieren.

 

Das Experiment der Großen Koalition ist ja in der Ersten Republik an eben der Wehrfrage zerbrochen. 1919 hatte der Diktatfrieden von Saint-Germain-en-Laye ein Berufsheer erzwungen. Dem sozialdemokratischen Staatssekretär Julius Deutsch gelang es gerade noch, trotz sechs- bzw. 12jähriger Dienstzeit, viele Freiwillige der Volkswehrmilizen in die Armee zu übernehmen.

 

Als Deutsch per Weisung aber auch noch die Soldatenräte als Personalvertretung integrieren wollte, kündigten die Christlichsozialen, die Vorgänger der ÖVP,  die Zusammenarbeit auf. Nach Neuwahlen zogen die Sozialdemokraten heroisch aus der Regierung aus – »Nicht als Besiegte, als Sieger verlassen wir das Kampffeld der Koalition« – und kehrten zum unermesslichen Schaden aller bis 1945 nicht mehr zurück.

 

Riskiert Österreich 2013, dass sich dieses düstere Kapitel seiner Geschichte als Farce wiederholt? Nein, Rot-Schwarz stellt am 20. Jänner eindrucksvoll die Stabilität der Koalition unter Beweis.

 

Wenn man der Regierung etwas vorwerfen will, dann bitte, dass sie ihre Arbeit strikt an das Ergebnis der Volksbefragung bindet. Weiters, dass der Befragungstext suggeriert, wir hätten noch keine Berufsarmee. Doch das Verteidigungsministerium, eine Institution von kakanischen Ausmaßen, beschäftigt 22.560 Personen  – das sind 17% der Beschäftigten des Bundes (2011). Jeder sechste Staatsdiener der Nation ist bereits ein Berufssoldat oder ein ziviler Angehöriger des Heeres.

 

Zu kritisieren wäre weiters das Ausklammern der Geschlechtergerechtigkeit zulasten der Männer und dass sich die Regierung bisher nicht dazu geäußert hat, ob die Wehrpflicht nun tatsächlich aus der Verfassung gestrichen, oder ob sie – wie in den USA und in Deutschland – nur außer Kraft gesetzt werden soll.

 

Das alles kümmert die aktuelle Diskussion in Österreich wenig; für die Neutralisten im Streit um Berufsheer oder Wehrpflicht kann friedensstiftende Außenpolitik auf der internationalen Bühne mit jedem Stiefel betrieben werden. Warum ist dieser Standpunkt falsch?

 

[1] Alle drei Bestimmungen des Neutralitätsgesetzes (keine Kriegsteilnahme, kein Bündnis, keine fremden Stützpunkte) zielen klar auf die völkerrechtliche Kriegsächtung. Neutralität ist kein schwächliches Konzept der Nichteinmischung oder der humanitären Reparaturkolonne, sie verpflichtet zur kontinuierlichen Arbeit an einer besseren Welt, und das heißt zur Abrüstung.

 

Ein Berufsheer kann schrittweise verkleinert werden, eine Wehrpflichtarmee aber nicht – denn ihr Umfang ergibt sich aus der Mannstärke der Eingerufenen. Wir entscheiden am 20. Jänner also, ob die Demoskopie zur Grundlage der Sicherheitspolitik gemacht werden soll oder nicht.

 

Abrüstung bleibt der Schlüssel zu einer gerechteren Weltordnung. Schwächung allein humanisiert Großmächte. Österreich marschiert nicht mehr an der Seite anderer, im gleichen Schritt und Tritt, und wir haben uns dabei nichts vorzuwerfen! Denn wir sehen im internationalen Strafrecht durchaus mehr als geduldiges Papier.

 

[2] Österreich bindet seine Neutralitätspolitik seit 1955 strikt an ein Mandat der Vereinten Nationen. Warum nun werden Wehrpflichtige zum Zwecke der Friedenssicherung nach der VN-Charta nicht zugelassen? Weil das Völkerrecht die Wehrpflicht als eine allgemeine Bürgerpflicht auffasst, gebunden an die territoriale Verteidigung des Nationalstaates. Sie ist nicht als universeller Friedensdienst interpretierbar; das kollektive Sicherheitsmodell der VN verlangte Berufsarmeen.

 

Die Gefahren des Interventionismus ist von der Kritik benannt worden: dass der Umfang der Krisenreaktionskräfte vergrößert wird; dass eine Berufsarmee ihren Nicht-Einsatz rechtfertigen muss, statt dass die Politik ihren Einsatz rechtfertigen müsste.

 

Das »Theater der Militärmissionen« hat keine Zukunft. Es verwandelt die Welt mit hochmoralischen Argumenten in quasikoloniale Schauplätze. Die Alternative, ob wir Soldaten in Krisengebiete entsenden oder zuschauen ist keine – sie bleibt der Logik des Krieges verhaftet und verengt den Handlungsspielraum der Politik. Militärische Kommandos laufen stets Gefahr, den Dampfkessel der Globalisierungskonflikte völkerrechtswidrig unter Kontrolle zu bringen.

 

Die Aufgabe eines Neutralen kann nie in der Konsolidierung von Imperien liegen. Wir müssen bewaffnete Konflikte in zivile umwandeln und durch mehr Internationale Polizeieinsätze (derzeit gibt es nur fünf in Afghanistan, Palästina, Georgien, Kosovo) innerhalb von rechtsstaatlichen Normen bearbeiten.

 

Österreichs Außenpolitik folgt seit 1955 einem vernünftigen Grundsatz: aufmerksames Nichteinmischen in den Streit anderer, zurückhaltende Begleitung von Konflikten, ein Pflaster auf die Krisen der Weltgesellschaft, um den Wahnsinn möglichst fern zu halten. Man nenne das ruhig »Feigheit«! Aber niemanden Angst zu machen, ein gutes Beispiel geben – das sind allemal bessere Tugenden als Dreinhauen.

 

Österreich braucht gegen niemanden militärische Entschlossenheit zu demonstrieren. Darum unterschreibe ich am 20. Jänner den SPÖ-Vorschlag und flüchte mich nicht in eine politikferne Position, die keinen Zusammenhang mehr zwischen dem Neutralitätsgesetz und dem Wehrsystem zu sehen vermag.

 

Mit dem Darabos-Modell des Profiheeres rückt die Außerdienststellung des überholten Bundesheeres einen historischen Schritt näher. Es schafft die gesetzliche Grundlage zur Verkleinerung der Armee. Die immerwährende Neutralität verpflichtet uns auf eine militärfreie Zukunft, in der bewaffnete Einsätze nicht mehr als Entscheidungsmittel von Konflikten angesehen werden.

 

© Wolfgang Koch 2012

 

 

 

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VOLKSBEFRAGUNG: 100 SÄTZE FÜR EIN ÖSTERREICHISCHES BERUFSHEER

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Zeitgemässe Sicherheitslösungen sind gefragt / Foto: W. Koch

Das Bundesheer

 

1. Das Bundesheer ist per Verfassung die Streitmacht der Republik Österreich.

2. Jeder Staat hat nur das Recht zur Selbstverteidigung Gewalt anzuwenden (UN-Charta).

3. Jede weitere Ermächtigung ist den Beschlüssen der Vereinten Nationen vorbehalten.

4. Österreich bestärkt diese Grundssätze durch seine immerwährende Neutralität.

5. Parlament und Regierung entscheiden demokratisch über den Einsatz der Armee.

6. Österreich verfährt zurückhaltend mit der politischen Freigabe von bewaffneten Kräften.

 

 

Die Gefahren

 

7. Österreich ist in absehbarer Zukunft sicher; eine isolierte Bedrohung undenkbar.

8. Eine Verletzung der Grenzen durch fremde Mächte ist nicht mehr das Risiko.

9. Bedroht sind wir von den länderübergreifenden Folgen sozialer Ungerechtigkeit.

10. Bedroht sind wir von den länderübergreifenden Folgen des Klimawandels.

11. Unsere Gesellschaft ist abhängig von fossilen Rohstoffen (Öl, Gas, Kohle).

12. Diese geänderte Bedrohungslage erfordert ein Mehr an internationaler Solidarität.

13. Dem Militär kommen nur mehr Nebenaufgaben zu; Stärke schafft keinen Frieden.

14. Auch auf gezielten Einzelterror gibt es keine militärische Antwort.

 

 

Die Aufgaben

 

15. Österreichische Soldaten dienen aussschließlich der Friedenserhaltung.

16. Abrüstung bleibt der Schlüssel zu einer gerechteren Weltordnung.

17. Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen muss verhindert werden.

18. Im Krisenfall steht der Schutz lebenswichtiger Einrichtungen im Mittelpunkt.

19. Eine Verteidigung der EU-Außengrenzen ist mit Wehrpflichtigen nicht möglich.

20. Grundwehrdiener können auch nicht für den Antiterror-Einsatz ausgebildet werden.

21. Der Katastrophenschutz zählt nicht zum Kernbereich des Militärischen (Assistenz).

22. Der Katastrophenschutz rechtfertigt keine militärische Ausbildung.

23. Er kann von Blaulichtorganisationen besser und kostengünstiger organisiert werden.

 

 

Die Missionen

 

24. Auslandseinsätze laufen immer Gefahr koloniale Schauplätze zu schaffen.

25. Doch alle Gewaltopfer der Welt haben das Recht, gerettet und beschützt zu werden.

26. Österreichs Soldaten dürfen nicht für fremde Interessen eingesetzt werden.

27. Ein UN-Beschluss ist die unverrückbare Voraussetzung für jede Entsendung.

28. Nur Freiwillige können das kollektive UN-Sicherheitssystem verwirklichen.

29. Seit 1960 hat das Bundesheer an über 50 solchen Missionen teilgenommen.

30. Österreich liegt stärkemäßig unter den ersten 20 Staaten, die UN-Personal stellen.

31. Von den bisher 90.000 eingesetzen Soldaten starben mehr als 40 im Einsatz.

32. Erfolge sind nur durch ein Zusammenwirken von UNO, OSZE, EU und Nato möglich.

 

 

Die Wehrpflicht

 

33. Das Bundesheer ist eine seit Jahren reformbedürftige Institution.

34. Wehrpflicht und Ersatzdienst greifen problematisch in die Menschenrechte ein.

35. Eine Wehrpflichtarmee kann nicht flexibel neuen Aufgaben angepasst werden.

36. Eine Wehrpflichtarmee kann nicht auf demokratischem Weg verkleinert werden.     

37. Wehrpflichtige können nur zum Einsatz im Inland herangezogen werden.

38. Die Wehrpflicht verschwendet Mittel für die berufliche Ausbildung von Profis.

39. Die Wehrpflicht verlängert jede Berufsausbildung und belastet die Wirtschaft.

40. Die Wehrpflicht kann nicht mit Ersparnissen für den Haushalt gerechtfertigt werden.

41. Die Wehrpflicht ist kein Garant gegen den politischen Missbrauch der Armee.

42. Die Männerwehrpflicht treibt einen Keil zwischen Männer und Frauen.

43. Die Männerwehrpflicht ist ein ewiger Nährboden von Frauenverachtung.

44. Der Zwangsdienst für Männer bewertet weibliches Leben höher als männliches.

 

 

Der Grundwehrdienst

 

45. Der Grundwehrdienst dient der Gewinnung von Berufs- und Milizsoldaten (Kader).

46. Die Mehrheit der Zwangsverpfichteten erlebt ihn als sinnlos und leidvoll.

47. Als Systemerhalter im Inland erleichtern sie fragwürdige Experimente im Ausland.

48. Grundwehrdiener kommen übrigens kaum im Katastrophenschutz zum Einsatz.

49. Jugendliche lernen humanistische Werte in der Schule, nicht in der Kaserne.

50. Militärischer Zwang kann Zuwanderer nicht kulturell integrieren.

 

 

Das Profiheer

 

51. Das geplante Profiheer verpflichtet freiwillige Männer und Frauen auf Zeit.

52. Jährlich sollen 1.300 Zeitsoldaten angeworben und ausgewählt werden.

53. Sie gehen anschließend in die Reserve oder dienen in einer Milizstruktur weiter.

54. Die überwiegende Mehrheit kehrt mit Ende Dreissig in das Zivilleben zurück.

55. Zu diesem Zweck erhalten die Profis eine Ausbildung in einem zivilen Beruf.

56. Am Ende können sie die erworbenen Qualifikationen mitnehmen.

57. Berufs- und Milizsoldaten sind keinesfalls skrupelloser als Wehrpflichtige.

58. Alle sind österreichische Staatsbürger und somit Teil der Gesellschaft.

 

 

Die Geschichte

 

59. Die Geschichte kennt keine Gesetze, die man durch Erfahrung überprüfen könnte.

60. Über den Armeeeinsatz entscheiden immer die politischen Machtverhältnisse. 

61. Allgemeines Wahlrecht und Wehrpflicht sind kein historisches Zwillingspaar.

62. 1934 missbrauchte die Regierung Dollfuß das Berufsheer gegen die Bevölkerung.

63. Dass Wehrpflichtige den Bürgerkrieg verhindert hätten, lässt sich nicht beweisen.

64. 1938 war unsere Wehrpflichtarmee zum militärischen Widerstand gegen Hitler bereit.

65. Die Verantwortung für die Kapitulation vor Hitler trug die Regierung Schuschnigg.

66. Außer China hat noch keine Diktatur der Welt auf die Wehrpflicht verzichtet.

67. Seit 1945 putschten in Europa fünfmal Wehrpflichtarmeen (GR, POR, 2x TÜR, SP).

 

 

Die Union

 

68. Der Friedensnobelpreis des Jahres 2012 geht an die Europäische Union (EU).

69. Die Sicherheit Österreich und die der EU sind weitestgehend miteinander verbunden.

70. Österreich ist sicher, solange die Friedensmacht EU sicher ist.

71. Eine äußere Bedrohung Österreichs ohne Betroffenheit der EU ist unmöglich.

72. EU-Verträge haben keine Auswirkungen auf völkerrechtliche Verträge der Mitglieder.

73. Die EU nimmt ausdrücklich auf die Wünsche der Neutralen Rücksicht (Irische Klausel).

74. 21 von 27 EU-Mitgliedstaaten haben bereits auf Profi-Armeen umgestellt.

 

 

Die Krisenreaktion

 

75. Der Ausbau der Union zu einem hochgerüsteten Militärpakt ist eine Legende.

76. Zwar trainiert die EU auch für bescheidene Kampfeinsätze außerhalb ihrer Grenzen.

77. Trotzdem wird Gewalt nirgends als Entscheidungsmittel von Konflikten angesehen.

78. Vereinte EU-Kräfte sollen notfalls Konfliktparteien gewaltsam trennen können.

79. Jedes Teilnehmerland finanziert seinen eigenen Beitrag zu dieser Peterberger Aufgabe.

80. Die bisherige Einsatzfähigkeit von zweimal 1.500 Europäern ist ein politischer Erfolg.

81. Dass die seit 2007 bestehenden Battlegroups noch nie nie eingesetzt wurden, ebenfalls.

 

 

Die Nato

 

82. Von den 27 EU-Staaten gehören (teils andere) 21 Staaten gleichzeitig der Nato an.

83. Österreich findet im Bündnis seit 1995 als Partner ohne Beistandspflicht Gehör.

84. Eine äußere Bedrohung Österreichs ohne Betroffenheit der Nato ist unmöglich.

85. Eine Grenzverletzung durch einen Nato-Staat ruft das gesamte Bündnis auf den Plan.

86. Es existiert kein Zusammenhang zwischen Wehrpflicht und Nato-Zugehörigkeit:

87. Es gibt in der EU bündnisfreie Staaten ohne Wehrpflicht (Schweden, Irland),

88. und es gibt europäische Nato-Länder mit Wehrpflicht (GR, TÜR, EST, NOR, DÄN).

89. In Nato-Staaten, die die Wehrpflicht ausgesetzt haben, sank der Verteidigungshaushalt.

90. In denselben Staaten (FR, B, SP, NL) wurden die Streitkräfte auch deutlich reduziert.

 

 

Der Zivildienst

 

91. Welches Sicherheitssystem Österreich braucht, kann nicht vom Zivildienst abhängen.

92  Es braucht das Bundesheer nicht, damit sich ihm ausreichend Leute verweigern.

93. Sozial- und Rettungsleistungen stehen und fallen nicht mit der Wehrpflicht.

94. Der konkurrenzlos günstige Zwangsdienst drückt in einigen Berufsgruppen die Löhne.

95. Der Freiwillige Zivildienst kann 8.000 Sozialjahr-Arbeitsplätze pro Jahr schaffen.

96. Bezahlte Sozialdienste sind nicht an ein bestimmtes Geschlecht oder Alter gebunden.

97. Die kollektivvertragliche Entlohnung wertet Ehrenämter und Sozialberufe auf.

98. Das Freiwillige Sozialjahr kann in der Berufsausbildung angerechnet werden.

 

Die Volksbefragung

 

99. Eine nicht abgegebene Stimme ist eine verlorene Stimme.

100. Eine ungültige Stimme ist eine verlorene Stimme.

 

© Wolfgang Koch 2013

 

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VOLKSBEFRAGUNG IN ÖSTERREICH: STRACHES NÜTZLICHE IDIOTEN VON LINKS

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Österreich legt nicht ab vom Ufer des Kalten Krieges / Foto: W. Koch

 

Während die deutschen Jusos soeben die Kriegsgegner Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die ihre Mutterpartei auf dem Gewissen hat, im politischen Gedächtnis eingemeinden, befürwortet die Sozialistische Jugend Österreich (SJÖ) die allgemeine Wehrpflicht, was deren Mutterpartei SPÖ ablehnt. Dieser Konservatismus der Kleingeister ist typisch für Österreich und verhängnisvoll für die zukünftige politische Machtverteilung im Land.

 

Seit Juli 2012 weist keine Umfrage mehr eine Mehrheit für das sogenannte »Profiheer«-Modell der Sozialdemokraten aus. Die erste bundesweite Volksbefragung ist so gut wie entschieden: es wird nach dem 20. Jänner keine Militärdebatten in Österreich mehr geben. Das beamtete Berufsheer wird nicht von 16.000 auf 8.500 Mann verkleinert. Die Zeitsoldaten erlernen keinen zivilen Beruf, der sie stärker in die Gesellschaft integriert. Die Einsatzfähigkeit für friedenssichernde UN-Missionen wird nicht erhöht. Die Höhe des Heeresbudgets bleibt auf Jahrzehnte unangetastet. Wir verlangen weiterhin von jungen Männern, ihr Schicksal an das der Armee zu binden. Kurz: die Chance für einen Aufbruch dürfte bereits vertan sein.

 

Die Heeresreform in Österreich scheitert keineswegs nur an dem schwarz-blauen Schulterschluss der konservativen Regierungspartei ÖVP mit dem rechten Herausforderer H. C. Strache (FPÖ). Deren Hauptargumente für die schmerzhafte Häutung des Menschen in der Kaserne lauten ja bloß: Verteidigungsminister Darabos, linkspopulistische Boulevard-Verschwörung der Kronenzeitung, Zivildienst, Katastrophenschutz, Militärmusik – vom Waffendienst ist im Wehrpflichtlager praktisch nie die Rede.

 

Braucht es denn wirklich das österreichische Bundesheer, damit sich ihm ausreichend Leute verweigern? Wollen wir den Schutz der Nation vom Zivildienst abhängig machen? Sicher nicht!

 

Auf der sozialen Ebene entspricht der Ruf nach der Wehrpflicht der Sehnsucht nach einer besser integrierten Gesellschaft. Aber der Zusammenhalt aller, der wächst in Familie, Schule und am Arbeitsplatz, und sonst nirgends.

 

ÖVP und FPÖ bringen bei der Volksbefragung allein keine Mehrheit zustande. Die Abstimmung wird erst von einer denkfaulen und kompromissunfähigen Linken zugunsten der Stahlhelm-Fraktion entschieden. Es sind die Militärskeptiker vom KZ-Verband bis hin zur Katholischen Aktion, die dem schwarzblauen Schulterschluss mit bestem Willen und lauterster Gesinnung zum ersten Triumph im Wahljahr 2013 verhelfen.

 

Der rechte Gebrauch eine Idee besteht darin, sie ansteckend zu machen. Aber seit der Fehlbesetzung mit dem Großindustriellen und Rüstungsprofiteur Hannes Androsch an der Spitze ihrer Kampagne hat die SP-Parteilinie keine Chance auf Erfolg mehr. In allen Diskussionen setzen sich Leute durch, die nicht sagen, was gerade nottut, sondern, was sie in ihrer Selbstherrlichkeit für wahr halten.

 

Der Doyen der österreichischen Friedensforschung, Gerald Mader, vermutet ins Blaue hinein, Berufssoldaten ließen sich leichter befehligen. Die linke Solidar-Werkstatt faselt von einer »EU-Großmacht«. Die Ex-Sozialdemokratin Barbara Blaha beliefert die Medien mit der zynischen Femdom-Fantasie, wonach sich die Gleichberechtigung der Geschlechter von den durch die Wehrpflicht unterworfenen Männern »abkoppeln« lasse.

 

Liberale Kommentatoren in allen Qualitätsblättern zeigen sich herablassend gegenüber dem Volk und besingen den Zwang, auf dem das Heer ruht, mit weinerlicher Demokratiefeindlichkeit.

 

Die Konferenz der Katholischen Aktion bemängelt »eine Vermischung« der Pflegesicherheit mit der Landesverteidigung, so als ob das nicht im Zivildienstgesetz vermischt wäre, sondern von der Regierung boshaft ins Szene gesetzt würde. »Auf falsch gestellte Fragen«, meinen die engagierten Christen, »gibt es keine richtige Antwort«.

 

Dabei ist doch genau das die Definition des Politischen: richtig zu antworten auf eine Frage, die eine Mehrheit für eine Entscheidung zur Wahl stellt.

 

Der Dank für der Niederlage der friedenspolitischen Perspektive gebührt einer politik- und kompromissunfähigen Öffentlichkeit, die lieber das Bürgerkriegsjahr »1934« oder »Imperialismus« an die Wand malt, als an internationalen Bemühungen zur Durchsetzung des Rechts teilzunehmen. Das Profiheer scheitert an unserer unmoralischen Gleichgültigkeit gegenüber der Welt.

 

Warum nur weigern sich kritische Zeitgenossen, die Folgen der Wehrpflicht abzuschätzen? Die SPÖ-Politikerin Gabi Burgstaller kann keinen Schaden für die eingezogenen Burschen erkennen. Der gleichfalls aus der Sozialdemokratie stammende Bundespräsident sieht ohne Einrückendgemachte die Neutralität gefährdet, und der Armeekommandant fürchtet um die Mobilisierung im Katastrophenfall.

 

»Ich weiß nicht, machen Sie einen Ochsen aus sich, oder sind Sie schon als Ochs zur Welt gekommen?«, sagt Schwejk. – Weiten Teile der österreichischen Intelligenz dämmert bis heute nicht, dass Wehrdienstverweigerung eine ethische begründbare Forderung ist, und Wehrpflicht ein problematischer Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte.

 

Es besteht aber kein moralisches Recht auf Unwissenheit und auf gegenseitige Indifferenz, sondern die Pflicht, Hilfe zu leisten, wo das möglich ist. Alle Gewaltopfer haben ein Recht, vor Mord und Tyrannei geschützt zu werden. Dazu benötigt die UNO ausdrücklich Berufssoldaten.

 

Dem Österreicher fehlt es rundum an demokratischer Disziplin, an der Bereitschaft, sich mit Sachfragen zu beschäftigen, geduldig zuzuhören und klug abzuwägen. Lieber diskutiert er über Neutralität oder Nato, was gar nicht zur Abstimmung steht.

 

Hinter den Kulissen einigen sich die Unterhändler der Koalition übrigens gerade auf einen Kompromiss nach dem 20. Jänner: Wehrpflicht nur noch für einen Tag. Österreich soll Dänemark werden, wo Wehrpflichtige nur dann per Los eingezogen werden, wenn die Zahl der Freiwilligen nicht ausreicht.

 

Die SPD hat dieses dänische Modell 2005 für Deutschland verworfen, weil es die Wehrgerechtigkeit vollends ad absurdum führt.

 

© Wolfgang Koch 2013

 

https://www.youtube.com/watch?v=yRgtT2woLXI

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SPÖ: DIE UNBESIEGTE VERLIERERIN DER HEERESDEBATTE IN ÖSTERREICH

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Den Vorhang zu und alle Fragen offen / Foto: E. Obermayr

Österreichs Streitmacht beruht also auch weiterhin auf Furcht vor Militärstrafen. Seit 2004 wurden schon über 1.000 Wehrpflichtige wegen Nichtbefolgung einer Zuweisung oder unerlaubter Abwesenheit kriminalisiert.

 

Die SPÖ tritt seit der Volksbefragung am 20. Jänner 2013 innenpolitisch ängstlich auf und bewertet koalitionäre Einheit wieder höher als politischen Meinungsstreit. Dabei könnte sich die Partei – trotz der schwerwiegenden Fehler, die mit den prominenten Namen Androsch, Fischer und Burgstaller verbunden sind – durchaus glücklich schätzen, hat sie doch von ihren vier Grundwerten (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie) erstmals die Freiheit in einer bundesweiten Kampagne in Stellung gebracht.

 

Die SPÖ zog in der Kampagne zur Heeresreform unter dem Stichwort »Freiwilligkeit« an einem Strang mit den grünen Bürgerrechtlern und den beiden liberalen Parteien im Land (BZÖ, Strachisten). Sie lehnte die Wehrpflicht im Namen »sozial verantworteter Selbstbestimmung« ab und propagierte neben dem »Freiwilligenheer« ein »Freiwilliges Sozialjahr«.

 

Das war politisch klug und sachlich richtig! Denn in Österreich gibt es eine drit Jahrzahnten ungestillte Sehnsucht nach Liberalität. Das Freiheitsideal der bürgerlichen Revolution war seit jeher ein Leitstern aller fortschrittlichen Politik, und hat nicht bereits das 19. Jahrhundert gezeigt, dass es die ArbeiterInnenbewegung besser zu bewahren verstand als die Besitzerklasse?

 

Ihre freiheits- und menschenrechtsfreundliche Position zur Heeresreform hatte die SPÖ allerdings nicht der programmatischen Arbeit ihrer Parteiakademie zu verdanken, sondern der militärpolitischen Intelligenz, also engagierten Offizieren.

 

Mit ihrem Herzensthema »soziale Gerechtigkeit« ist für die SPÖ in einem Land ohne dramatische soziale Konflikte kein Profil zu gewinnen. Darum war es längst überfällig Kollektivismus, Anti-Individualismus und den Verzicht auf persönliche Verantwortung ideologisch abstreift. Den Ruf nach dem »Vater Staat« ist keine brauchbare Basis für die Zukunft mehr.

 

Im Gegenzug strapazierte Schwarz-Blau fast ausschließlich das »Gemeinwohl« für die Wehrpflicht. Man erörterte die Grundsatzfrage, ob es zulässig sei, den Bürgern nicht nur Steuergeld, sondern auch gesellschaftliches Engagement abzuverlangen. Die Rückschrittsparteien forderte junge Menschen zu »solidarischen Staatsbürgern zu erziehen«, bei ihnen Sinn und Verantwortung für das Gemeinsame zu erwecken. »Eine wertelose Gesellschaft«, wiederholte H.C. Strache in einer Tour, »wird zu einer wertlosen Gesellschaft«

 

Im Wesentlichen entschied genau dieses kommunitaristische Abstimmungsmotiv die Befragung, ergo der Zivildienst über die Sicherheitsvorsorge. Darin mochte eine Rationalisierung anderer Unzufriedenheiten stecken, doch es war durchaus mehr als natürliche Ranküne.

 

Was bedeutet es in einer Demokratie, wenn eine Mehrheit Zwang als Stütze der solidarischen Gesellschaft anerkennt? Was besagt es auf historisch belastetem Boden, wenn die Gemeinwohlverantwortlichkeit unter Strafdrohung auf die Schultern junger Männer gelegt wird?

 

Es bedeutet, dass die Grenze zwischen Staat und Gesellschaft verwischt wird und die Politik ein totalitäres Verbundsystem zwischen ihnen erzeugt.

 

Kommunitaristische Debatten kommen aus den USA. Dort beklagt man schon länger die »Auflösung von Bindungen« und das Ausufern »egoistische Sonderinteressen«. Linke und Rechte versuchen eine Wiederbelebung von Gemeinschaftsdenken unter den Bedingungen der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft.

 

Doch das Lob eines an die Gemeinschaft gebundenen Selbst hat in den USA stets ein starkes liberales Gegengewicht. Als 1940 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde, protestierte das Commitee on Militarism in Education mit den Worten: »Nach unserer Auffassung schmeckt die Wehrpflicht zu Friedenszeiten nach Totalitarismus …«.

 

Das gilt in Österreich gleich doppelt. Hier musste sich die SPÖ ja erst aus den Widersprüchen ihrer Gleichheitsideologie lösen, um dem Gemeinschaftstrend eines sehnsüchtigen Zeitalters entgegenzutreten.

 

Anders als in den USA läuft die Idee einer »Wehr- und Wertegemeinschaft« hierzulande automatisch Gefahr an die »Volksgemeinschaft« der Hitler-Diktatur anzuschließen. Auf mentalitätsgeschichtlich verseuchtem Boden setzt Waffenpflicht zwangsläufig den Geist der braunen Massenideologie fort.

 

Auf die Idee, aus der Zwangsrekrutierung einen neuen Gemeinschaftssinn zu entwickeln, konnte nur eine postfaschistische Gesellschaft verfallen. Womit agitierte Schwarz-Blau denn gegen das »Profiheer«? Mit Bürgersinn und gemeinschaftlicher Zwangsorganisation – gerichtet gegen antisoziales und gemeinschaftsschädigendes Verhalten.

 

ÖVP und FPÖ haben am 20. Jänner 2013 den politischen Schulterschluss für eine mobilisierte Gesellschaft vollzogen, die auf der Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft, auf gegenseitiger Kontrolle und der freiwilligen Unterordnung der Individuen unter das Gemeinwohl beruht.

 

Konnte man bis dahin glauben, dass die »Volksgemeinschaft« in Österreich nur mehr als eine »Wehrgemeinschaft« gegen Fremde aufersteht, als aggressives Kollektiv der Verfolger von Illegalen, Asylsuchenden und Bettlern, wie seit Wochen in der besetzten Wiener Votivkirche, so sind wir seit dem 20. Jänner gewarnt.

 

***

Was übrigens die Boulevardmedien betrifft, so haben sie allein an die Leserschaft der Zukunft gedacht und ein nachhaltiges Signal an die Jugend ausgesandt.

 

© Wolfgang Koch 2013

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DER BESTE FUNKEN AM HIMMEL SEIT JAHREN

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Lässt das Feuer nach oder wird es zu heftig? / Foto: Oktogon

Seit Jahren weise ich darauf hin, dass die Stadt an der Donau eines ihrer schönsten und friedlichen Volksfeste dem Verein der Vorarlberger in Wien zu verdanken hat. Gemeint ist das Funkenfeuer, kurz: Funken, auf der Himmelwiese am Cobenzl. An diesem Ort, einem der Hausberge der Wiener, wird in jedem März einmal bei Einbruch der Dunkelheit ein kunstvoll aufgeschichteter Holzhaufen mit Stroheinlagen öffentlich entzündet und damit die Winterzeit symbolisch aus dem Jahreskreislauf vertrieben.

 

Letztes Wochenende war es wieder einmal so weit. Die für den diesjährigen Brand verantwortliche Funkenzunft war aus Bregenz-Fluh angereist und übertraf tatsächlich alle Erwartungen der ZuschauerInnen bei weitem. In den Jahren 2011 und 2012 war nämlich beim Funken am Lebensbaumkreis einiges schief gelaufen. So hatte die rotgrüne Stadtregierung im Rathaus das Feuer mit dem fadenscheinigen Argument einer erhöhten Emissionsbelastung der Wiener Luft behindert; es durften nur mehr stark verkleinerte Holztürme am Himmel verbrannt werden.

 

Zudem sahen sich die Wiener Linien mit dem Andrang der Menschenmassen vollkommen überfordert; im letzten Jahr mussten sich Familien ihren Platz in den überfüllten Bussen vom Cobenzl retour nach Heiligenstadt regelrecht erstreiten. Dieses politisch-administrative Doppelfiasko hat sich im zurückliegenden Jahr offenbar so weit herumgesprochen, dass heuer nur mehr ein Bruchteil der schaulustigen Menge zusammenströmte.

 

Die geringere Besucherzahl hatte wunderbare Effekte: nur mehr zwei- bis dreitausend Menschen, so dass man einander nicht mehr gegenseitig auf die Zehen steigen musste; sinnvolle Absperrungen und Schotterhaufen für die Kinder zum Spielen; sinnvolle Busintervalle von drei und später dann zehn Minuten; und, das Wichtigste, ein wieder 14 Meter hoher, perfekt gebauter Funken, dessen Turmkonstruktion den Flammen länger als eine Stunde standhielt.

 

Die Politikerreden beschränkten sich 2013 auf angenehme Kürze, die Atmosphäre war wieder entspannt wie in den Anfangsjahren dieses Voralberger Brauchtumsexports nach Wien. Als die Flammen des Funkens die Hexenpuppe an der Spitze des Stapels erreichte, donnerte ein herzerfrischender Böller über die Wiesen.

 

Kritisieren ließe sich am Szenarium des heurigen Festes nur das überlange Feuerwerk, das vermutlich das Jahresauskommen einer ganzen chinesischen Kleinstadt sichern dürfte. Und auszusetzen hätte ich vielleicht noch ein Wenig an der Dauerbeschallung mit Grooves aus den Lautsprecherboxen. Am Player verdrängte ein gewisser Flo Plattner das schöne Knistern der brennenden Scheiter im Hörraum.

 

Nein, sage ich, noch haben wir gewöhnlichen Verbraucher uns nicht daran gewöhnt, dass bei jeder Spaßveranstaltung synthetische Bässe den Herzschlag der Menge synchronisieren. Noch sind wir nicht alle gleichgeschaltet. Doch in Österreich wird mittlerweile vom Brauchtum über Wahlveranstaltungen bis zum Sport praktisch jeder Großevent mit akustischem Müll zugedeckt.

 

Gibt es denn heute überhaupt etwas Uncooleres als öffentlich wummernde Basslinien?

 

© Wolfgang Koch 2013

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WIENER KINDERFREUNDE AUF DER MILCHZAHNSTRASSE

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Der Gedanken, Kinderrechte umzusetzen, bleibt Maskerade. / Foto: Kinderfreunde

 

Die Österreichischen Kinderfreunde sind eine tragende Säule der sozialdemokratischen Bewegung, und in Wien überdies der größte private Kindergarten- und Hortbetreiber. Die Funktionäre dieser mächtigen Organisation führen nichts häufiger im Mund als die Kinderrechte und versprechen auf sämtlichen ihrer Kanäle, mit fortschrittlichen Pädagogen, tausenden ehrenamtlichen Mitarbeitern und den Eltern eben diese Kinderrechte in ihrer Arbeit auch umzusetzen.

 

Wiens Kinderfreunde beabsichtigen nach eigener Aussage, »dem Kind auf gleicher Augenhöhe zu begegnen und den Heranwachsenden Respekt entgegen bringen«. In der sogenannten Kinderrechte-Arbeit kommen dabei immer neue Ideen zum Einsatz, zum Beispiel regelmäßige Kinderkonferenzen oder ein Kinderrechte-Set im Kinderfreunde-Hort in der Leipziger Straße, im Kindergarten Kluckygasse erprobt man eine Kinderrechte-Schatzkiste mit putzigen Symbolen.

 

Sind solche Aktivitäten glaubwürdig? Sind sie überhaupt das viele, bedruckte Papier wert, auf dem sie propagiert werden? – Nehmen wir zum Beispiel den Fall der fünfjährigen Monika O., um die Sache zu überprüfen. Monika O. hat im letzten Sommer den ersten ihre mausspitzen Milchzähne verloren.

 

Gleich im September dann, als es nach den Sommerferien mit dem Kindergartenjahr wieder losging, brachten Monikas Eltern Zahnputzzeug in den betreffenden Kinderfreunde-Kindergarten und baten die Betreuerinnen, das Mädchen nach dem Mittagessen zum Zähneputzen zu schicken. Das stieß auf gewohnte Freundlichkeit und allgemeines Wohlwollen, funktionierte auch vier Monate lang prima, bis schließlich eines Tages die Kindergartenleiterin den verdutzten Eltern säuerlich eröffnete, dass Monikas tägliches kleines Mittagsritual leider fortan wieder entfallen müsse.

 

Warum?, werden Sie jetzt fragen. Nun, wir fragen uns das auch.

 

Die Begründung dafür, dass die Essenreste wieder auf Monikas Zähnen picken bleiben müssen, lautet: Die Eltern anderer Kinder hätten ebenfalls ihr Interesse am Zähneputzen bekundet. Das aber sei schwierig umzusetzen. Man müsste ja die Bürsten, Becher und Pasten getrennt aufbewahren. Die Leiterin fragte wegen des zu erwartenden dramatischen Mehraufwands an täglicher Betreuungarbeit in der Albertgasse nach und erhielt von der Landesorganisation prompt die gewünschte Weisung, das Zähneputzen der Kleinen aus administrativen Gründen bleiben zu lassen.

 

Dass die lautstark propagierte UN-Kinderrechtskonvention in den Artikel 14, 17, 24, 32 und 39 auch das »Recht auf Gesundheit und Hygiene« enthält, das lassen die Kinderfreunde kurzerhand unter den Mittagstisch fallen. Weder Franz Prokop, der Vorsitzende der Wiener Kinderfreunde, noch Geschäftsführer Christian Morawek, oder irgendjemand der 70 Mitarbeiter in der Zentrale, wollten sich auch nur dazu herablassen, den Eltern auf ihre Bewerde zu antworten. Wo kämen wir da bitte hin im Roten Wien, wenn nicht mehr die Zentrale bestimmte, welche Bedürfnisse die Betroffenen anmelden dürfen und welche nicht!

 

Die Ignoranz der selbsternannten »Schrittmacher« im Wiener Kinderfreundehaus sucht Ihresgleichen. Eltern werden von dieser einst ehrwürdigen Organisation nicht mehr als Partner oder zahlende Kunden behandelt, sondern in bester kollektivistischer Manier als Bittsteller und lästige Querulanten; Kinder werden nicht als schutzbedürftige Menschen angesehen, sondern als in Anstalten zu verwahrende »Schatzis« und »Mausis«.

 

Unter solchen Vorzeichen klingen Sätze wie folgender aus der aktuellen Zeitschrift der Wiener Kinderfreunde nur mehr zynisch: »Die Kinderrechte-Arbeit im Kindergarten gibt Kindern die Chance zu erfahren, was es bedeutet, wenn Kinderrechte aktiv umgesetzt werden. Sie werden dazu befähigt, diese auf ihrem weiteren Lebensweg einzufordern und in späterer Folge auch ihren eigenen Kindern vorzuleben«.

 

Was zeigt sich am Fall unserer Fünfjährigen in Grossbuchstaben? Es zeigt sich, was es bedeutet, wenn Sozialdemokraten Kinderrechte aktiv umsetzen: nämlich nichts. Und welche Fähigkeiten erwerben die Kinder in solchen Kindergärten? Die Fähigkeit zur deprimierenden Einsicht, dass ihre Rechte Worthülsen sind, auf denen Erwachsene nach Bedarf herumtrampeln wie sie wollen.

 

© Wolfgang Koch 2013

 

http://wien.kinderfreunde.at/Bundeslaender/Wien

http://www.kinderrechte.gv.at/home/

 

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GESCHENK VOM OSTERHASEN: DAS WIENER KIRCHENRANKING 2013

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Eine von zwei dem Pestheiligen Karl Barromäus geweihte Kirchen Wiens / Foto: Courtesy of AKI

 

 

Yelp zählt zu den Internet-Plattformen, auf denen anspruchslose Surfer ihre Zeit mit Allerweltinformationen verplempern. Angeblich haben seit der Yelp-Gründung im Juli 2004 in San Francisco Yelp-Autoren mehr als mehr als 36 Millionen Beiträge über lokale Angebote und Geschäfte geschrieben. Ein in Wien ansässiger Yelper nennt sich Stefan T. und hat unter seinen 240 Beiträge auch ein Ranking der Wiener Gotteshäuser zuwege gebracht.

 

Davon ist wenig bis gar nichts zu halten. Die Auswahl und Bewertung folgt der belanglosen Fährte des Wientourismus, also dem, was der hiesige Touristboard für irgendwie »essentiell« hält. Yelp-Wissen addiert Wegstrecken zu Denkmalkunde und der Statistik der Postkartenverkäufe, und füttert das Publikum so mit lichtlosen Banalitäten. Das Ranking dieser Darstellung lautet:

 

1. Stephansdom

2. Otto Wagner-Kirche am Steinhof

3. Karlskirche

4. Votivkirche

5. Maria am Gestade

6. Jesuitenkirche

7. Augustinerkirche

8. Kapuzinerkirche

9. Minoritenkirche – Italienische Nationalkirche Maria Schnee

10. Ruprechtskirche

11. Michaelerkirche

12. Kirche zur heiligsten Dreifaltigkeit

13. Peterskirche

14. Altlerchenfelder Kirche

15. Schottenkirche und Schottenstift

16. Dominikanerkirche

17. Piaristenkirche Maria Treu

18. Franziskanerkirche

19. Deutschordenskirche

20. Griechenkirche zur heiligen Dreifaltigkeit

 

In Wahrheit würden keine zwei Kirchengeher in Wien dieselben zwanzig Stätten unter den über 800 Gotteshäusern der Stadt auswählen. Die Uninspiriertheit und Lustlosigkeit von Yelp ist umso erstaunlicher, als ja gerade das Internet die Möglichkeit böte, radikal subjektiv oder – im Gegenteil – streng nach überprüfbaren Kriterien vorzugehen.

 

Kann schon sein, dass es Wienbesucher gibt, denen schnelle, oberflächliche Informationen auf mobilen Plattformen nützlich sind. Wir aber nutzen die heurigen Osterfesttage, um Stefan T. eine anschauliche Liste von Wiener Bedeutsamkeiten entgegenzustemmen und im Folgenden Zugänge zum Absoluten aufzeigen, ohne dass ein Vibrato der Seele angestimmt wird.

 

1. Demontable Kirche Siemensstrasse

Die nach Plänen von Ottokar Uhl 1964 in Transdanubien errichtete »Seelsorgestation« ist heute eine brutalistische Ruine. Nichts scheint bezeichnender für den Zustand der lokalen Anhänger des »Gesalbten«, als der bauliche Verfall dieser funktionalistischen Fertigbetonkirche, Österreichs fulminanten raum-psychologischem Beitrag zum II. Vatikanischen Konzil unter Papst Johannes XXIII.

 

2. Edith-Stein-Kapelle

Noch so ein Experiment, das sich mühelos Le Corbusiers Notre-Dame-du-Haut im französischen Ronchamp zur Seite stellen ließe. Sichtbeton, lederbespanntes Stahlrohr, Milchglasscheiben und eine graziöse Madonna in Holz – all das in Rufweite vom neogotischen Wiener Rathauspalast. Die Anwesenheit Gottes geschieht einzig durch die Studentengemeinde.

 

3. Salvatorkirche am Wienerfeld

Was Architekt Johannes Spalt im 10. Bezirk um Herbert Boeckls koloristisches Alterbild herum ausgesät hat, das umfasst drei Jahrzehnten später die Ernte einer ausgesprochen sympathischen Pfarrgemeinde. Während der Messe gucken die Erwachsenen durch Glas auf die Kleinkinder hinter dem Priester. Die Jugend nächtigt unter der Orgel.

 

4. Jesuitenkirche

Brachiales Jesuitenbarock des Andrea Pozzo, engelstrompetend und stuckmarmoriert der Innenraum, in dem man heute einen Hermann Nitsch gebären müsste. Die erste Seitenkapelle links ehrt das Allerleifach der Universität, die Philosophie, in Gestalt der mystischen Hochzeit der Hl. Katharina; ein weiteres Joch versteckt das Mädchen Maria, im Halbdunklen Lesen lernend.

 

5. Maria am Gestade

Inbrünstler, Neomystiker und Evangelikale in der Architekturkulisse des schönsten hochgotischen Sakralbaus zu Wien. Der eigenwillige Knick im Grundriss ist dem einst an der Geländekante verlaufenden Ufer der Donau geschuldet. Napoleons Pferde lagerten hungrig im Inneren; ein Konterfei Draculas ward aufgefunden. Seit 1862 machen die Gebeine des Stadtheiligen Clemens Maria Hofbauer alles wieder gut.

 

6. Dom- und Metropolitankirche St. Stephan

Versteinerte Stadtgeschichte mit 343 Stufen hinauf in die Türmerstube, in die Katakomben hinunter sind es weniger. Adolf Loos, der Gottseibeiuns der österreichischen Moderne, behauptete 1906, dass die Proportionen des Hauptraumes nur eine halbe Minute für das brauchen, wofür Beethoven mit seinen Symphonien eine halbe Stunde benötigt: mich aufzurichten.

 

7. Ruprechtskirche

Dass ausgerechnet die älteste und kälteste noch bestehende Kirche Wiens die progressivsten Katholiken in einer Rekoratspfarrei beherbergt, darf als stiller Treppenwitz des Geistlichen Wiens durchgehen. Taizé-Community und Blutwäsche, uneigentliche Rede, Auschwitzgedenken und vakante Schwulenseelsorge: Baiern-Apostel Rupert hat immer noch den Geschmack vom Salz im Mund. 

 

8. Peterskirche

Hoppla, schon wieder Barock! Der gleißende Innenraum stülpt sich wie eine Trockenhaube über Touristen aus aller Herren Länder. Baumusikalisch schmiegen sich die Kleinodien der Wiener Romantiker so perfekt ins Gold- und Rosengekränze der Hosanna-Rufe wie nirgendwo sonst in Wien. Dass häufig eine »Missa trinitatis« aus der Kuppola herabtönt, darf unter Besuchern der Donaustadt als selbstverständlich vorausgesetzt werden.

 

9. Franziskanerkirche Hl. Hieronymus

Die in gedankliche Irre führende Fassade mit Renaissance-Zitaten beherbergt einen gegenreformatorisch codierten Innenraum mit Antikorgel über, sowie eine ausgedehnte Gruftanlage unter dem Schiff. Die eigentliche Sensation hier sind aber die erzählfreudigen Seitenaltäre mit Triumphbögen, verzückten Heiligen und kunstvoller Stuckdraperie, die halb verbirgt, was sie enthüllt: großes barockes Welttheater.

 

10. Stanislauskapelle

Dem katholischen Patron der Jugend verdankt sich dieses mit Blumenfresken bemalte und nur sehr selten zugängliche Kleinod, intim wie ein Wäscheschrank. In der Kurrentgasse 2 wohnte einst Stanislaus Kosta. Der polnische Jüngling aus protestantischem Elternhaus wünschte sich nicht sehnlicher, als dem Jesuitenorden beizutreten. Alternative: die besonders marianische Annakirche, in der parfümierter Adel und demütige Bauern einkehren.

 

11. Bernadikapelle im Heiligenkreuzerhof

Ebenfalls praktisch unzugängliche barocke Opulenz in Silber von Martino Altomonte. Unter Zisterziensern wird religiöser Glaube jeder Widerlegung unzugänglich angesehen; unter demütigen Bettlelmönchen hat es die Vernunft seit jeher besonders schwer, mit eigenen Mitteln die Wahrheit oder Falschheit der Dogmen zu diskutieren. Der Glanz an sich ist widerspruchsfrei.

 

12. Christus, Hoffnung der Welt – Donaucitykirche

Mit Chromstahl aus der Turbinenproduktion bekleideter Kreuzquader, im Jahr 2000 errichtet nach den Plänen von Heinz Tesar. Verbirgt einen neckischen Ikea-Traum aus hellem Birkenholz vor der Zentrale eines Straßenbaukonzerns und der internationale Fernüberwachung der Atomenergiegewinnung auf der Erde, kurz: vor dem Stahlglas-Geprotze von Kaisermühlen.

 

13. Wotrubakirche zur Heiligen Dreifaltigkeit

Kubistischer Felsenhaufen ohne Vorne und Hinten, ohne Fassade und Symmetrie. Das transzendentale Subjekt in Mauer ist ein Bauklötzchen, von der Inkarnation in einem heiligen Körper nicht zu trennen. Hier muss einmal ein Aussichtpunkt in die Landschaft gelegen sein, jetzt steht da ein lamentierender Fußblock für Prometheus.

 

15. Karl-Borromäus-Kirche am Zentralfriedhof

Nicht die gleichfalls mit diesem Zweitnamen belegte »Karlkirche« am Karlsplatz, sondern der im Volksmund »Lueger-Kirche« genannte Friedhofstempel zu Simmering. Vorbildlich renovierter Jugendstilzentralbau im Eigentum der Gemeinde Wien. Dass sich die Kuppel des arabischen Sternenhimmels als Symbol für Unendlichkeit bedient, dürfte der bis ins Untergeschoss hinabstürzenden Lichtkaskade egal sein.

 

16. Christkönigskirche in Pötzleinsdorf

Stimmungsvolle Endstation der Straßenbahnlinie 41. Bau aus 1963 von Karl Schwanzer, wo die Stadt zunächst in einen Schlosspark mit Freimaurerheiligtum und etwas weiter oben in den Dschungel übergeht. Der sakrale Ernst des Ortes rührt von einem blauen Wunder her, nämlich Arnulf Rainers Glasfensterwand, von welcher der Kunsthistoriker Otmar Rychlik einmal sagte, sie wirke wie »übermaltes Licht«.

 

17. Rosenkranzkirche in Hetzendorf

Eine simple neuromantische Basilika, bis das schwer kriegsbeschädigte Ungetüm 1956-58 vom Wiener Architektur-Neuerer und Wort-Zertrümmerer Friedrich Achleitner, späterer Archivar der Neigungen und Winkel, einer »purifizierenden Neuinterpretation« des Innenraums unterzogen wurde. Dokument eine der seltenen Sternstunden der Zweiten Moderne in Wien.

 

18. Maria, Licht der Kirche

Gerade mal einen Steinwurf vom Islamischen Kulturzentrum in der Dammstraße entfernt errichtete 2011 die Fraternität der Kleinen Schwestern vom Lamm, ein armutsbetonter Dominikanerzweig, eilig ein Minikloster in der Brigittenau. Seither kann man im Sakralraum dieser Ordensschachtel jeden Abend Erweckungsauftritte nach dem Motto »Auch wenn ich unverletzt bin, fange ich nicht an zu hassen« erleben.

 

19. Deutschordenskirche

Errichten Sie mal auf dem Grundriss eines gotischen Längsschiffes einen oval-barocken Raum, in dessen Inneres hinein die Ordensbrüder und -gäste nur ein Fenster ihrer Zelle öffnen müssen, um am liturgischen Geschehen teilzunehmen! Auf eine solch bizarre Idee konnten – an der Mauer des Karfreithofs von St. Stephan – nur sehr weit gereiste Ritter verfallen.

 

20. Altlerchenfelderkirche zu den Sieben Zufluchten

Gesamtkunstwerklerisches Mekka des Wiener Romantikerkreises, gestaltet aus dem Germanengeist der 1848er-Revolutionsniederlage, der sich allerdings auch in der Dominikanerkirche, der Peterskirche und der Nepomukkirche im Dritten Hieb manifestiert. Hier in Neubau wurden die ständigen Bevormundungen des Hofbaurates so gründlich abgeschüttelt, dass das Beten bis heute mit dem Kunstschönen korreliert.

 

© Wolfgang Koch 2013

 

http://www.yelp.at/list/wiener-kirchen-wien

 

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WORTE AUS DER KINDHEIT DER ÖSTERREICHER

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Was so aussieht wie etwas, aber möglicherweise etwas anderes ist / Foto: W. Koch

Dass Österreicher und Deutsche doch nur entfernte Verwandte in Europa sind, ahnten wir schon länger. Nun wissen wir wieder einmal genauer, warum das so ist.

 

Dieser Tage erfreute sich die Twitter-Liste »WorteausderKindheit« großer Beliebtheit. Sie versammelt Phrasen und Begriffe, die den heutigen Erwachsenen in Deutschland nicht mehr aus dem Ohr gehen. Unter http://dict.leo.org/forum/vie… de&lang=de findet sich schon länger eine kommentierte Kollektion dieser Art.

 

Auf diese vielsagenden Akte populärer Selbstbefragung und Selbsterforschung aufmerksam geworden, legte die Tageszeitung »Der Standard« eine nationale Umfrage nach: über einhundert PosterInnen lieferten ein für Österreich gültiges Sittenbild.

 

In der Folge die geordnerten Worte aus der Kindheit, mit der hierzulande lebenden Generationen aufgewachsen sind:

 

-A-

… aber danach (geht’s) ab ins Bett.

Der/die … hat das aber auch.

Das noch, aber dann abmarsch.

Wenn der Aff’ von der Brücke springt, …

Denk an die Kinder in Afrika.

Wer hat jetzt ang’fangen? Du oder …

Und was hast (du) heute wieder ang’stellt?

Wärst net aufigstiegn, wärst net runtergfalln.

Aufräumen, aber dalli!

 

-B-

Wannst deppert bist, schick ma dich in die Baumschul.

Nimm dir doch ein Beispiel an …

Bis dir wieder weh tust.

Wennst brav bist, darfst.

Brust raus, Bauch rein.

 

-D-

Ich zähl jetzt bis Drei.

 

-E-

Nur noch einmal!

Das kannst wem anders erzählen.

Du träumst auch von warmen Eislutschgern.

Dich muss der Esel im Galopp verloren haben.

Mit dem Essen spielt man net.

 

-F-

Vom vielen Fernsehen bekommt man eckige Augen.

Fernsehverbot.

Mach den Mund zu, sonst fliegt die Fliege rein.

Wer flüstert, lügt.

Wennst frech bist, kommst ins Heim!
In Afrika wärens froh, wann’s sowas gäbe.

Heb die Füße hoch beim Gehen.

 

-G-

Host g’hört?

War dein Vater a Glaserer?

Mir san gleich da.

Ein bißerl a Glauben hat noch niemanden g’schadet.

Dein Zimmer schaut aus, wie wenn a Granaten eingeschlagen hätt.

 

-H-

Auf, auf, ihr Hasen, …

Der He ist schon gstorben.

Bis heiratest, is alles wieder gut.

Du hörst sofort auf, zornig zu sein.

 

-I-

Ein Indianer kennt keinen Schmerz.

Iss Kind, sonst hast später Hunger.

 

-K-

Kaugummi verpickt den Magen.

Geh in den Keller ein Bier holen.

… sonst kleschts.

 

-L-

Lass die Kleinen einmal in Ruhe.

Im Laufschritt marsch.

Licht sparen.

 

-M-

Messer, Gabel, Scher und Licht sind für kleine Kinder nicht.

Kannst net Muh sagen?

 

-N-

Mit nackten Fingern zeigt man nicht (auf angezogene Leute).

Nylonsackerl.

 

-O-

Schreib mir eine Ansichtskarte, wenn du (im Nasenloch) oben bist.

Mir heissen doch ned Onassis.

 

-P-

Wart’ nur, bis der Papa kommt.

 

-R-

Red‘ – oder scheiss Buchstaben.

Ruhe!

 

-S-

Schau ned so blöd, sonst bleibst da.

Schlagt’s euch die Schädeln ein.

Vom Schielen bleiben die Augen stecken.

Schnell heisst net schirch.

Du bleibst jetzt so lang sitzen, bis du fertig gegessen hast.

Solange du da wohnst, machst du was wir wollen.

Wennst spinnst, gehst liegen.

Dich müssen’s im Spital vertauscht haben.

Die Tür is ka Strohsack.

Das kannst deiner Strumpftante erzählen.

 

-T-

Der Teller wird aufgessen.

Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.

Wennst noch ein einziges Mal mit der Tür knallst, …

 

-U-

Was ist des: Hängt an der Wand, macht tick-tack, und wenn’s obefallt, ist die Uhr hin?

 

-V-

… bis zur Vergasung.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

 

-W-

Wo warst?

Nein! – Warum?

Was sagt der Has’.

Wenn’s dir weh tust, schmier i dir ane.

So lang, bis einer weint

Wenn du so weitermachst, …

Wenn die Tante Radln hätt’, wär sie a Autobus.

Wenn das Wörtchen »wenn« nicht wär, …

 

-Z-

Wie heisst das Zauberwort?

Jetzt aber Zackzack!

Da wird heute einer Zapfen rechnen.

Zieh dich warm an, es ist kalt draussen.

Schleich dich ins Zimmer und komm nimma raus.

Der Pfarrer predigt auch net zweimal.

Du bist ned aus Zucker.

Hör auf zum Zunge zeigen, oder ich schneids da ab.

 

© Wolfgang Koch 2013

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