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Afrika im Gedicht – Klagen, Litaneien, Verliererjereminaden (2/6)

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Mag sein, dass Janheinz Jahns Gedichtesammlung Schwarzer Opheus von 1954 bzw. 1964 ein »gestriges, oft nostalgisch verklärtes Afrikabild« vermittelt, wie der Herausgeber dieser neune Anthologie, Al Imfeld, kritisiert. Doch das damalige Konzept vereinte die Dichtung »afrikanischer Völker beider Hemisphären«, es siedelte die Aufmerksamkeit in einem übergreifenden afroamerikanischen Kulturraum an – und das entsprach den Realitäten der Globalisierung durchaus besser als die alte Afrikakarte der Kolonialisten.

Imfeld versteht unter Afrika, was ein Geograph auf der Karte sieht. Er wählt die Gedichte aus der zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrheitlich nach thematischen Gesichtspunkten. Dieses Selbstbeschränkung ist weder konsequent durchgehalten noch überzeugend.

Imfeld sucht ernsthaft nach dem »heutigen Wesen Afrikas«, als ob nicht vielfach heftig bestritten worden wäre, dass es diese kulturelle Einheit überhaupt gibt. »Dieser Kontinent«, schrieb Ryszard Kapuściński, »ist zu groß, als dass man ihn beschreiben könnte. Ein regelrechter Ozean, ein vielfältiger, reicher Kosmos. Wir sprechen nur der Einfachheit, der Bequemlichkeit halber von Afrika. In Wirklichkeit gibt es dieses Afrika gar nicht, außer als geographischen Begriff«.

Der in Afrika lebende Teil der Menschheit ist seit Anbeginn zweigeteilt. Ob man nun die beiden großen Sprachfamilien heranzieht (den afroasiatischen Norden und Niger-Kongo-Bantu im Süden) oder die Kulturkreistheorie eines Leo Frobenius (mit einer hämitischen und einer äthiopischen Ausprägung), ob man das islamische/ nichtislamische Afrika heranzieht oder die Teilung in Anglophonie und Frankophonie – bei keiner Betrachtung lässt sich von einem Gesamtwesen des Kontinents ausgehen, dem substanzielle Eigenheiten zugeordnet werden können.

Für Al Imfeld heisst das »Wesen Afrikas« unbeschadet, was Afrika in sich ist und was davon durch das Gedicht begriffen wird. Er hält Lyrik nicht für eine Schule der Desillusionierung, sondern für eine »besondere Form der Philosophie«, die einen Kampf mit dem vom europäischen Kolonialismus hinterlassenen Schlamassel führt. Das afrikanische Gedicht hat sozialpolitisch zu sein oder gar nicht.

Unter »sozialpolitisch« versteht Imfeld aber nicht etwa ein politisches Handeln mit Parteinahme in Machtkämpfen, sondern das unaufhörliche Moralisieren der Unterdrückung von Afrikanern oder von schwarzen Frauen, die gärende Stimmung in Nordafrika, die Anklage der bösen Geldwirtschaft, den Klagegesang der Landarbeiter, die schwierige Suche nach der berühmten Identität, die doch noch nie jemand am Fenster vorbeilaufen hat sehen…

Nur in ganz, ganz seltenen Fällen werden in den ausgewählten Gedichten reale Mechanismen der Politik analysiert. Der nigerianische Bürgerrechtler Ken Saro-Wiwa etwas wagt das, wenn er über die Wirkung eines Moratoriums im asymmetrischen Konflikt spricht – »nach der Zwischenzeit/ haben wir ein System«. Oder Dennis Brutus macht das, wenn er der Taktik des Durchhaltens zugesteht, »doch eine Art Kampf« zu sein, dann nämlich, wenn man dabei auf gewissen Werten besteht, seinen Glauben nicht verliert und seine Würde behält.

In den übrigen Fällen aber artikuliert das sozialpolitische Wort nur das Wollen, die Fackel der Eigenverantwortung zu ergreifen. Es herrscht in dieser Lyrik die grundverkehrte Auffassung, den harten Kern einer jeden Revolution bilde das Gedicht.

Es stimmt natürlich, was der Arbeiterpolitiker Wilhelm Liebknecht 1872 im Leipziger Hochverratsprozess gesagt hat: »Des Menschen menschliche Waffe ist das Hirn, nicht die Faust«. Um das Hirn anzusprechen braucht es aber die Vernunft. Stimmungstamtam allein genügt nicht, der falsche Zucker der Metaphern ist entpolitisierend.

Al Imfeld vermittelt mit seiner Auswahl engagierter Lyrik ein Afrikabild, das gut auf den Beipackzettel von Fairtrade-Produkten passt, aber von der Dichtung der Moderne in der Regel so unbeeindruckt bleibt wie Zeus von der flutenden Altersklage der antiken Sappho. Kaum einer der Verse intermittiert die Psyche des Lesers. Hunderte Gedichte besitzen nur eine das politische Fühlen ordnende Kraft.

Die postkoloniale Rede dröselt in einem Überfluss von Eloquenz und Schmerz das Leiden auf  in Angst vor dem Verstummen. Sie benennt gerne das heutige Mordgeschlecht, organisiert Heimatsucherbanden – auf den Kern des Poetischen, auf die irritierende singuläre Selbstbezüglichkeit, stößt man nur selten.

Da erklingen der lyrische Ruf nach Welt, Wortgewitter aus dem Exil, Briefe aus dem Zentralgefängnis, Hoffnungen auf Toilettenpapier – bei diesem Fließen und Überströmen von Gefühlen und Gedanken ist Afrika vielleicht unterwegs die Macht von Freiheit und Liebe zu erkennen, den existentziellen Fragen stellt es sich nicht mit der uns notwendig erscheinenden  Konsequenz des Abstand-Nehmens und Maß-Haltens.

Vollmondkindlichkeit, Hunger, Häuser wie klaffende Wunden. Wir sehen Afrika in Clustern des Friedens und des Verbrechens, der Subsistenz und der Folter. Zwischen Kairo und Kaptstadt: ein gebeutelter, unausgeschlafener Mensch, geschaffen zur Illustration von Entwicklungstheorien. Autoren, die nicht in der Lage sind zu erkennen, dass die Sprache zuerst einmal den Sprecher verwüsten muss, damit die Worte fügsam den Mund umspülen.

Wir brauchen keine Verse, die vollkommen mit unseren Afrikaprojektionen übereinstimmen. Mit dem Barfußgehen. Dem pochenden Herzen der Trommeln. Wir brauchen keine Gedichte, deren Heldeneinfalt zärtlich den reichen Norden anklagt (»Ein Albtraum bindet diese Menschenschar an Europa wie eine verwundete Schlange«), – wir sehen das alles ohnehin täglich in den Nachrichten: die Hüttenbewohner, die Bootsflüchtlinge, die Ebola Soccer Survivors,…

Lieber läse man Lieder über das sehnsüchtige Verhauchen eines Vogels.

In dieser Anthologie herrscht eine mystische Unzufriedenheit, ein episches Leiden an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen. Afrika, behauptet einer, sei belastet mit genug Leiden, um den ganzen Planeten zu versenken. Überall Schurken, Halsabschneider, »Tagediebe unseres Schweisses«, die ihr Leben lang herumsitzen und die Afrikaner verspotten.

»Der Kongo stirbt an Hysterie, er stirbt an Lächerlichkeit«. Abgenabelte Verbindungen, zugeschnürte Münder. Die Menschen »aller Himmel« klopfen ängstlich an Türen. Schwärze gilt als Grund aller auftauchenden Probleme. Unvernunft, Unsinn, Prostitution. »Die Welt treibt den Ekel immer weiter/ Und wird in ihr Gegenteil verkehrt«.

Verdammnis? Na, gut! Aber wie viele Zeilen dieses Buches können es mit einem Satz aufnehmen wie diesen von Charles Racine [1927-95] aus dem Jahr 1956: »Das Kind wird hingerichtet auf den Brettern der Wiege«. – Wenige, fast keine.

B 2

»Millionen Ghanaer blöken am Morgen wie aus/ einem Mund«. Eine lyrische Persona hält sich selbst für einen Irrtum: »meine Lebensjahre, nichts als/ Kinder-Kritzelein/ An den Türen von Schultoiletten«. Und: »Das Böse ist zu flüssigem Geld geworden«.

Ja, aber ist das Leben überhaupt wahrscheinlich? Sind das Distanz-Suchen und Unbewegt-Bleiben denn keine würdige Haltungen?

Für diese afrikanischen AutorInnen nicht. Sie erheben Anspruch auf ihre Aussätzigkeit, auf lange und schaurige Seelenqualen. Das Ergebnis sind säkulare Ersatzpredigten, überpädagogische Sonntagsreden, moralinsaures Geschwafel. In den Sprüchen vietnamesischer Reisbauern liegt mehr Weisheit als im Gros dieser afrikanischen Lyrik.

Ohne Atem, so heisst es auf der letzten Seite in einem ganz frischen Gedicht, seien wir »Schwindel/ Atem/ und Leben«. Aber nein, möchte man einwenden, der italienische Dichter Eugenio Montale hat doch schon vor Jahrzehnten, 1939, dargelegt, dass uns das eröffnete Leben so wenig gehört wie der eigene Atem.

Vielleicht werden die literarischen Kosmen Europas und Afrikas, wenn sich der Rauch des Anklagens und Wohlmeinens einmal verzogen hat, doch noch in den aufmerksamen Dialog der Lektüren treten.

Egal, wo man diese Sammlung aufschlägt, fragt man sich nach ein paar Minuten: Besitzt Afrika wirklich nur so wenige gute SchriftstellerInnen, oder verfälscht hier der Schweizer Herausgeber das Bild durch seine sozialphilosophische Brille?

Ich denke, der Hang zum Moralisieren, der ist in den Köpfen dieser Dichtergenerationen schon da. »Nicht die Politiker definieren uns«, sagt stellvertretend für viele heute arbeitende Lyriker der exilkongolesische Schriftsteller Muepu Muamba: »Nein, die Poesie erfindet die Welt.«

Es ist gewiss richtig, dass Poesie eine Welt erfindet, aber die Welt in ihrer Gesamtheit? Das tut sie sicher nicht.

Wenn Literatur unbedingt politisch wirken will, worin ich keinen Fortschritt zu sehen vermag, so ist es der sicherste Weg ihren Inhalt durch den politischen Gegner definieren zu lassen. Also, welche Dichter und welche Werke haben denn in den letzten Jahren öffentliche Erregung und staatliches Handeln in Afrika nach sich gezogen?

Das erste Werk des 2011 verhafteten Kameruner Schriftstellers und Historikers Dieudonné Enoh Meyomesse war ein Gedichtbuch; – das wäre ein würdiges politisches Objekt der Übersetzungtätigkeit gewesen.

Der ivorische Schriftsteller Josué Guébo hat im Vorjahr mit Songe à Lampedusa/ Denk an Lampedusa für Aufsehen gesorgt. Das hätten wir bestimmt als ein erinnerungswertes politisches Statement aufgefasst.

© Wolfgang Koch 2015

Al Imfeld (Hg.): Afrika im Gedicht, 586 Poeme auf 815 Seiten, zweisprachig abgedruckt, Offizin Verlag, Zürich 2015, ISBN 978-3-906276-03-8, EUR 60,-

Fotos: Autor und Marie Obermayr

 

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Afrika im Gedicht – Seerosen, Tamtam, Schnappmesseraugen (3/6)

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Afropoesie ist ein schwieriges Unterfangen, da zerrissen zwischen Exil/ Hochkultur/ Fremdsprachen auf der einen Seite und einem Denken und Fühlen in Worten, für die es gar keine Schriften gibt, und also auch keine Leser; – zerrissen zwischen den Identitätskonstrukten von Blackness/ Négritüde/ Tigritude, deren Anliegen die Stärkung eines Selbstbewusstseins ist, das von den Weißen programmatisch unterdrückt wird, und den Traditionsverwüstungen unter Wellblech, zerrissen zwischen Orpheusgaben und leichtsinnigen Maximen, zwischen Ahnenverehrung und dem »Blut der Jugend«, zwischen Tamtam und Skypen.

Haben Sie gewusst, dass sich die erste Kolonie des europäischen Avantgardismus 1920 in Kairo befand, und dass sich Filippo Marinetti bei den ägyptischen Propagandisten seiner Ideen damit bedankte, dass er sie nicht mit in die Liste der »Weltfuturisten« aufnahm?

Ein böses Omen für die postkoloniale Literatur aus den späteren Kasperlstaaten.

Sollen Afrikaner das Gedicht überhaupt aus der Vermischung mit anderen Kunstformen wie Tanz, Malerei, Karikatur befreien, wo die Volksdichtung doch nie als eine von anderen Sparten der Kultur abgetrennte Sphäre bestand?

Afrikanische Lyrik scheint aus lauter Konstruktionsfehlern zu bestehen. Sie muss die Angst vor dem Verstummen überwinden, muss den Raubeliten des Kontinents die Stirn bieten, um die Schrift erst einmal als eine die Welt ordnende Kraft zu behaupten; zugleich möchte sie sich jenem Wort entziehen, das in Afrika die Formen von Kosmologien, Predigten und Lovesongs angenommen hat – der Senegalese Amadou Lamine Sall appelliert heute an die jungen Dichter seines Landes, die Nationalsprachen zu benutzen anstatt sich zwanghaft auf Französisch auszudrücken; – und schließlich muss es afrikanische Lyrik auch noch mit dem arabischer Paternalismus aufzunehmen, der davon ausgeht, dass die afrikanischen Muslime zu wahren Muslimen gemacht werden müssten.

Kann angesichts dieser vertrackten Lage von der fiebrigen Begeisterung für das Gedicht mehr übrig bleiben als der Sonnenstich eines Schimpansen?

B 3

Es gibt in dieser Anthologie Verse, von denen man sich wünscht, sie würden morgen Anwendung im chinesischen Erziehungsdrill finden: »Das Leben ist kein Panzerfahrzeug/ das auf die Parzellen des Glücks schiesst«. Es gibt unfreiwillige Komik: Kinder »schnarchen mit geschlossenen Fäusten«. Hochkomik gar: »Durch Axt und Feuer entblösst/ stehst du nun nackt da/ wie ein Ameisenhaufen auf dem Marktplatz«.

Auf Seite 578 schlägt »das vollkommene Können« der Zeit »wie ein Bohrer ins Gehirn«. – Lässt sich in die weiche Hirnmasse überhaupt etwas anderes »einschlagen« als Gedankenleere? Drei Seiten weiter tanzt die Säge des Metzgers durch den Bauch einer hustenden Kuh. Es gibt «gähnende« und »schwarze Löcher«. Wörter, die »vernarrt« sind »in den Widerhall der Welt«.

Auf dieser literarischen Reise besuchen wir ein Johannesburg, »wo der Tod im Dunklen droht wie ein Klinge im Fleisch«. Auch dieses Bild darf man als misslungen bezeichnen, da die Klinge im Fleisch eben nicht droht, sondern schmerzt.

Wir lesen unter dem Versprechen Klartext zu reden, dass Kinder »auf der Flucht vor dem Feuer im Nirgendwo ertrinken«.

Und was soll in einem Poem mit dem Titel Kritzelnde Hacke anderes stehen, als dass die Scheue eine Bibliothek ist und entsprechend wertvoll?

Noch ein Wort zur Qualität der Übersetzungen. Da sind einmal die unlösbaren Probleme mit dem grammatikalischen Geschlecht. Aus dem englischen »Ignorance/ father of unknowing« wird in der deutschen Fassung die unglückliche »Ignoranz/ Vater der Unwissenheit«.

Anderes geriet zu steril. Eine französische Wendung für den simplen Dorfbach – »un fleuve villageois« – wird mit »ein dörfischer Fluss« wiedergegeben. Den Vers »A love song, that reaches from wave to find the wind« übersetzt man mit: »ein Liebeslied, das aus den Wellen reicht, um den Wind zu finden«. Das hätte auch eine Maschine ohne menschliches Zutun zuwege gebracht. Mit Sprachgefühl könnte die Stelle zum Beispiel lauten: »ein Liebeslied, das aus den Wellen ragt, um nach dem Wind zu greifen«.

Zu danken ist dem Herausgeber und seinen sieben Übersetzern jedenfalls, dass die Dichtungen konsequent zweisprachig wiedergeben werden, auch wenn dabei die typografische Fonts unvorteilhaft im Schriftbild variiert.

© Wolfgang Koch 2015

Al Imfeld (Hg.): Afrika im Gedicht, 586 Poeme auf 815 Seiten, zweisprachig abgedruckt, Offizin Verlag, Zürich 2015, ISBN 978-3-906276-03-8, EUR 60,-

Fotos: Autor und Marie Obermayr

 

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Afrika im Gedicht – Kontinentalcharakter, Hamlet, Syphilisierung (4/6)

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Der Herausgeber der neuen Afrika-Anthologie will das tiefe »Wesen« des ganzen Kontinents erfassen, ein früheres Werk aus seiner Werkstatt trägt den bezeichnenden Titel Afrika als Weltreligion.

Verträgt Lyrik eine solche Behandlung? Lässt sich in einer globalisierten Gesellschaft nach dem Kontinentalcharakter fragen wie einst nach dem von Völkern und Nationen?

Was als wesenhaft afrikanisch gelten könnte, wird in den versammelten Gedichten selten direkt angesprochen. In einigen Fällen aber doch: * Ein ausgeweitetes System des Ausgleichs. * Dass der ganze Clan, die flexible Großfamilie, bei der Tür hereinstürmt und erwartet, dass die Hausfrau wohlwollend lächelt. * Mit der Kraft von Generationen zu lieben. * Naturkatastrophen. * Sich satt essen und dann weg zu schleichen. * Zaudern; denn vielleicht verliert die Ungeduld ja ihren Mut angesichts der eigenen Unschlüssigkeit. * Zuwarten, bis jemand nach einem fragt.

Über diese Selbstzuschreibungen hinaus müsste nach der Lektüre das Anklagen als ein übergreifendes Charakteristikum Afrikas angesehen werden. Die Poesie am Kontinent der Habenichtse erscheint wie eine einzige moralisierende Veranstaltung.

Neu ist das keineswegs. »Zu wem soll ich heute sprechen?« heisst es im einem Papyrus aus der 12. Dynastie des Mittleren Altägyptischen Reiches. »Die Brüder sind böse,/ Freunden kann man heute nicht mehr trauen…/ Zu wem soll ich heute sprechen?/ Es gibt keine Rechtschaffenen mehr,/ Das Land gehört denen die Böses tun.«

Diese Worte schrieb ein Autor vor ungefähr 3.800 Jahren unter der Sonne am Nil, als weder von Afrika, noch von Anthologien oder Lyrikstipendien die Rede war (Papyrus Berlin 3024). Seither ist viel Wasser ins Mittelmeer geflossen, der lebensnotwendige Pessimismus hat sich im Denken und Fühlen fest etabliert und hilft dabei Krisensituationen besser einzuschätzen und vorherzusagen.

Im Europa des 20. Jahrhunderts kam Bert Brecht zu einer anderen Einsicht. »Ein Mann«, unterstrich er zunächst noch einmal die Klage des anonymen Ägypters, »der etwas zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm dran«. Dem fügte er hinzu: »Noch schlimmer sind Zuhörer dran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat«.

Haben uns die Autoren dieser Anthologie etwas zu sagen? In Ausnahmen, ja.

Das lyrische Ich einer darin vertretenen Ghanaerin behauptet im Namen aller schreibenden Kollegen: »Wir meistern das Sprechen«, – aber das ist keineswegs wahr, in zwei Dritteln der Fälle schwingen die afrikanischen Poeten bloß die Fäuste gegen die Weltgemeinschaft, geißelnd die ehemaligen Kolonialherren, bejammern unfreundliche Exilorte, usw. usf.

Nur ganz selten bildet das Überraschende oder das Unverständliche ein Fundament des Dichtens, ständig käuen die Autoren die Weltsicht von Verlierern wieder, singen für die eigene Exekution.

B 4

»Ich wollte alles sagen und mich trotzdem verstecken«, begründet eine Autorin ihre Wahl der Gedichtform. Auch das scheint auf viele Kollegen zuzutreffen. Es erklärt vielleicht sogar, warum in dieser sozialpolitischen Lyrik so schmerzlich radikale Selbstentäusserungen fehlen, Ironie und Offenbarungsmomente des Alltags. Lyrik steigert gewiss das Selbstbewusstsein – doch grosso modo ist sie hier weder geistig wach noch erfinderisch.

»Ein guter Dichter ist zuerst einmal Humanist und nicht Afrikaner«, zitiert der Herausgeber zustimmend einen Schriftsteller aus dem Kongo. Das ist sicher gut gemeint; es legitimiert den Selbsterhaltungstrieb einer fragilen Kultur. Aber noch richtiger wäre es zu sagen: »Ein guter Dichter ist zuerst einmal kein schlechter Dichter; später reden wir über alles andere«.

Den gestrauchelte Dambudzo Marechera, er starb auf einer Parkbank, führte das antikoloniale Selbstbewusstsein soweit, dass er das Dichten selbst für eine afrikanische Existenzform hielt. Der Tod seines Vaters habe ihn gelehrt, betonte er, dass praktisch alles unwirklich sei. Als Dichter müsse er nun seine eigenen Beschreibungen der Wirklichkeit hineinweben in die vorhandene Fantasie, die wir Welt nennen. Er, Marechera, beschreibe und lebe seine Beschreibungen, und das sei, nach afrikanischer Lehre, verwandt mit Hexerei.

Diese Definition der Poesie als Wortmagie ist nicht so weit entfernt von Allen Ginsberg, der darauf bestand, dass Dichtung eine subjektive Wahrheit sei, die alle sofort als objektiv anerkennen, weil sie jemand tatsächlich verwirklich hat. Zwischen diese beiden Betrachtungen passt kein Blatt. Jeder zeitgemäße Lyriker wird eine Vereinnahmung der Hexenmethode durch Afrika bestreiten.

© Wolfgang Koch 2015

Al Imfeld (Hg.): Afrika im Gedicht, 586 Poeme auf 815 Seiten, zweisprachig abgedruckt, Offizin Verlag, Zürich 2015, ISBN 978-3-906276-03-8, EUR 60,-

Fotos: Autor und Marie Obermayr

 

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Ende eines Unbehagens: 60 Jahre österreichische Neutralität

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Am 26. Oktober feierte die Republik Österreich die Konstitution seiner völkerrechtlichen Neutralität. Das entsprechende, aus freien Stücken nach dem Abzug der alliierten Besatzungstruppen von einer Parlamentsmehrheit beschlossene Verfassungswerk gehört zu den elegantesten Gesetzesformulierungen, die sich in der zivilisierten Welt finden lassen:

(1) Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen.

(2) Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.

Mit diesen drei Sätzen wurde eine neue Epoche der österreichischen Geschichte eingeleitet. »Die Entscheidung, die wir heute treffen«, erklärte Staatskanzler Julius Raab am 26. Oktober 1955 vor dem Hohen Haus in Wien, »bindet nicht nur uns, sondern auch unsere Kinder und Kindeskinder«.

Dieses Vermächtnis war in den letzten Jahrzehnten keineswegs immer unumstritten. Die österreichische Regierung verfolgt gegenwärtig kaum mehr eine neutrale Außenpolitik; im aktuellen Ukrainekonflikt zum Beispiel trägt man völlig widerspruchslos die einseitigen Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland mit.

Auch von einer »Unverletzlichkeit des Staatsgebietes« wagt angesichts des nicht mehr abreißenden Flüchtlingsstroms aus den Krisengebieten des Nahen Ostens niemand mehr zu sprechen. Statt einen aktiven Grenzschutz zu leisten, organisiert das österreichische Bundesheer Catering- und Transportdienste für die Transitflüchtlinge nach Deutschland. Benötigte ein Schutzsuchender aus Syrien noch im Sommer etwa drei Wochen bis in sein Zielland Deutschland, so sind es seit der lückenlosen Verstaatlichung des Schleuserwesens von der EU-Außengrenze bis nach Bayern nur mehr drei Tage.

Hin- und hergerissen zwischen Willkommeneuphorie und Abwehrgesten hat sich die österreichische Gesellschaft heute mit der Neutralitätsmaxime ausgesöhnt. Überdeutlich erkennen wir, dass in Syrien genau einer jener unseligen Bündniskriege tobt, welche die Alpenrepublik in zwei Weltkriege gerissen hat.

Die Rede von einem »Stellvertreterkrieg« in Syrien ist vollkommen falsch. Jede der kämpfenden Bürgerkriegsparteien dort vertritt ihre ureigenen Interessen und ist mit einer Regionalmacht alliiert. Frieden kann in seiner solchen Konstellation nur mehr eintreten, wenn eine Regionalmacht ihren Bündnispartner verrät oder sich alle auf eine Teilung des Staatsgebietes einigen.

Zu Erinnerung: Es war zwar die Separation der Slowenen und Kroaten von Jugoslawien, die in den 1990er-Jahren zu den Balkankriegen geführt hat; aber es war dann auch die Teilung des Landes und seine Besetzung durch fremde Truppen, welche einen Frieden ermöglicht hat.

In Österreich ist heute endlich das Unbehagen am Kleinstaat verschwunden, die Faszination der großen Idee eines transnationalen Europas schrumpft auf jenes realistische Maß zurück, das ihm längst schon angemessen gewesen wäre: die Europäische Union als Ideal von akademischen Eliten mit ethischen Zusatzqualifikationen.

Wir sehen heute deutlich, dass die Idee Europas größer und bedeutende ist als die Idee einer Union europäischer Staaten, die letztlich nur die USA kopieren: also das Prinzip von Machtkonzentration durch Einheit, zentrales Kommando und soziale Homogenität.

Die Idee Europas ist ein eminent kultureller Gedanke, der Stärke durch Vielfalt und Heterogenität entfalten kann. In Europa hat Neutralität genauso ihren Platz wie der weltabgewandter Isolationismus oder sein Gegenteil, ein humanitärer Interventionismus; die Mitgliedschaft in einem militärischen oder in einem politischen Länderklub ist moralisch kaum mehr wert als das Abseitsstehen bei fremden Händeln.

Vermittlung ist der entscheidende Punkt, um Gewalt zu verhindern; und das flexible Zusammenwirken unterschiedlichster Konzepte in einer Sicherheitsarchitektur ein weiterer. Mehr wissen wir in Wahrheit nicht im Meinungsstreit über den Krieg und Frieden, auch wenn unsere universalistische Kultur des Geschwätzes täglich das Gegenteil behauptet.

Die Kriege und die Geschäftsbücher, sagte Karl Kraus, werden mit Gott geführt. Zu diesem Wort hatte seit hundert Jahren niemand mehr etwas Intelligentes hinzufügen.

© Wolfgang Koch 2015

Foto: Marie Obermayr, Angelobung am Heldenplatz

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Salzburger Mönchsberg: Syrische Herzschläge aus Staub

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Drei Tage benötigt ein Schutzsuchender aus den Bürgerkriegszonen im Nahen Osten, um bis an die deutsche Staatsgrenze in Bayern zu gelangen. Drei kurze Tage, um in der Menge von täglich mehreren Tausenden eine »Gefährdung der deutschen Sicherheit« darzustellen, wie das der bayerische Innenminister soeben genannt hat. Drei kurze Tage – statt, wie noch in diesem Sommer, drei lange Wochen –, seit Polizei, Hilfsorganisationen und Militär das Schleuserwesen in den Transitstaaten lückenlos verstaatlicht haben.

Eine der wichtigen Nichtorte auf dieser Flucht aus den Archipelen des Elends und zugleich die letzte Station vor dem Zielland Deutschland ist der Salzburger Bahnhof, genauer gesagt: die mit gelber Signalfarbe designte Tiefgarage tief unter den Bahnsteigen. Man gelangt über eine funktionierende Rolltreppe hinunter in diese Unterwelt des Humanitären; der Gegenlauf nach oben aber steht symbolkräftig still und muss erst Schritt für Schritt wie ein Hochgebirgsgipfel bewältigt werden.

Drunten, in dieser Unterwelt: unaufgeräumte Schlafsäcke und Decken auf Feldbetten, Kinder, die mit Jungsoldaten fangen spielen, heiße Würstchen und Käsesemmeln auf einem Tapezierertisch, Erwachsene stehen wie bei einem Pfarrbazar rund um Pappkartons herum und fischen in den Kleiderhaufen.

Etwas abseits haben fünf Leute aus Afghanistan, Syrien und dem Libanon um ein Paar weißer Sportschuhe mit Adidasstreifen einen Kreis gebildet. Man probiert die Treter reihum an den Füßen und der, dem sie am besten passen, der bekommt sie.

In den Fluren durchtrainierte Polizeimänner und blondbeschopfte Politessen, Rotkreuzhelfer mit Atemschutzmasken, finstere Gesichter über Handydisplays; ein strenggläubige moslemische Familie mit verschleierten Frauen belegt fern der anderen Matratzen im verkachelten Bereich vor den Toiletten.

Keine drei Kilometer Luftlinie von diesem Rettungslager entfernt thront das Museum der Moderne über den gediegenen Bauten der Salzburger Altstadt. Dort sind dieser Tage auf mehrerer Stockwerken Kunstexperimente und Performances aus den 1960er und 1970er-Jahren ausgestellt. Man dokumentiert einen heute fast absurd erscheinenden, grenzenlosen Zukunftsenthusiasmus von US-amerikanischen Ingenieuren und Kreativen, die sich damals in der Formation E.A.T. zusammengetan haben.

E.A.T. stand am Ende des 20. Jahrhunderts für Experimente in Kunst und Technologie, die heute so etwas wie die Dinosaurierphase der IT-Epoche darstellen. Da sind die schallverstärkten Schläge eines Tennisspiels zu hören; bewegliche Skulpturen auf ferngesteuerten Plattformen zu bewundern; das Selbstmordwägelchen, das von Jean Tinguelys Homage to New York (1960) übrig geblieben ist; ein Tisch voller Kunst-Geld; Andy Warhols Silver Clouds; rotierende Siebdruckscheiben von Robert Rauschenberg; und der Pepsi-Pavillon für die Weltausstellung in Osaka 1970.

Wir staunen heute über die amüsierten und verblüfften Gesichter der zeitgenössischen Betrachter dieser Kunstwerke auf dem dokumentarischen Schwarzweißmaterial. Heute enthusiasmieren die gezeigten Objekte und Skizzen kaum einen der jährlich rund 110.000 Besucher am Mönchberg, Schulklassen mitgezählt. Die Vernetzungs-Euphorie ist längst allen lästig und die Sinnsuche in der Daten-Lawine anstrengend geworden.

Die einst bahnbrechenden Projekte verzaubern jedenfalls keine gewöhnlichen Besucher mehr. Seit aber die nahöstliche Kriegsrealität das Touristenschmuckkästchen Salzburg erreicht hat, gibt es doch einen Besucher, den die Artefakte in ein abgrundtiefes Staunen zu setzen vermögen. Um den auf ihrer Flucht am Bahnhof gestrandeten Menschen aus den zerstörten Metropolen Syriens für ein paar Stunden eine Ablenkung von ihrem völlig ungewissen Schicksal zu bieten, lädt sie das Museum ein, die preisgekrönten Werke zu erkunden.

»Um soziale Barrieren abzubauen«, begründet das Museum der Moderne sein Besuchsangebot für Migranten und Flüchtlinge. In Zusammenarbeit mit der Diakonie und dem Flüchtlingshaus in Mülln werden von Kunstvermittlern des Hauses Familienprogramme angeboten. Mittlerweile stapften schon fünf Flüchtlingsgruppen mit jeweils zirka zehn Kindern, Müttern und Vätern durch die seltsamen Projektdokumente am Mönchsbergs.

Jean Dupuy_Hearts Beats Dust

Viele Schutzsuchende sind ohnehin technikaffin. Das Mobiltelefon gehört noch vor dem wärmenden Schuhwerk zur Grundausstattung der neuen Deutschlandreisenden.

Muss es diesen Museumsbesuchern nicht schier unglaublich erscheinen, dass da den ganzen Tag eine bezahlte Aufsichtsperson neben einem fast fünfzig Jahre alten Kasten steht, auf Wunsch den Strom anknipst und ihm, dem Besucher, ein akustisches Stethoskop aushändigt?

Der Flüchtling hält das Bruststück mit dem Membran in seine Herzgegend oder an eine beliebige Schlagader und kann dann sehen, wie sich eine Polyäthylenplatte hinter Glas langsam erwärmt und sich von der Oberfläche zartes Rubinpigment im Schlag seines Herzens in die Luft erhebt. Das Museum am Mönchsberg zeigt den Transitgästen mit dem Werk von Jean Dupuy, dass sie dem Krieg in ihrer Heimat tatsächlich entkommen sind, dass sie überlebt haben und ihr Herz nunmehr in Erinnerung an ein unmögliches Zuhause rasend schlägt.

© Wolfgang Koch 2015

Fotos: Brooklyn Museum Archives – Ausstellungseröffnung Some More Beginnings, 1968 (Ausschnitt); Rainer Iglar – Heart Beats Dust von Jean Dupuy, 1968 (Ausschnitt)

 

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Walter Seitter liest Hegel, Heidegger, Hitler mit Grillparzer

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Ein neuer Vortrag des Wiener Philosophen, erstmals gehalten am 14. Oktober 2015 in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, führt thematisch zurück in Seitters Studienzeit in München, als sich der spätere Wegbereiter und Übersetzer Foucaults in spätjugendlicher Begeisterung in seine erste Nietzsche-Lektüre hineinsteigerte.

Nietzsche gilt heute als Schlüssel für viele poststrukturalistische und postmoderne Positionen der neueren französischen Philosophie. Bemerkenswert, dass der gebürtige Salzburger Walter Seitter erst über diesen Umweg in die Fänge der Austriazistik gelangte. Denn Nietzsche las seinerseits Grillparzer und bewunderte diesen Denker eines abgründigen Biedermeier als »bei Seite stehenden und still betrachtenden« Wahlverwandten.

Nietzsches Kulturkritik der 1870er-Jahre richtete sich ausdrücklich gegen bestimmte Punkte der Hegel’schen Philosophie: die Verehrung der Geschichte und die Anbetung der Macht, die durch die militärischen Erfolge Preußens und durch die Gründung des Deutschen Reiches scheinbar gerade bestätigt wurden.

Grillparzer hatte Hegel 1826 persönlich in Berlin aufgesucht und den Turbodenker dabei »so angenehm, verständig und rekonziliant, als in der Folge sein System abstrus und absprechend gefunden«. Der österreichische Klassiker erkannte in dem deutschen Philosophen »einen der größten Denkkünstler aller Zeiten«, freilich einen mit »monströsen Resultaten«, die der »verrückten Methode« der Dialektik und ihrer grundsätzlichen Aufhebbarkeit von Gegensätzen geschuldet war.

Wie für den Kulturkritiker Nietzsche war für Grillparzer Hegels Gebäude grundlegend schief ausgefallen:

»Der Schaden, der dadurch angerichtet wurde, ging nach mehreren Seiten. Erstens kam dadurch der natürliche Verstandesgebrauch in Misskredit. Der Verstand dessen Aufgabe die Entfernung von Widersprüchen ist, wurde einer sogenannten Vernunft untergeordnet, die sich mit der Erzeugung von Widersprüchen beschäftigt, oder vielmehr der Widerspruch selbst ist … Zweitens, indem man alles durch das Klügeln Unaufgelöste mit dem Schimpfnamen des Unmittelbaren belegte, wurde das ganze Reich der Empfindungen mit dem Charakter des Unvollkommenen, Schwächlichen, Aufzuhebenden gestempelt … Das letzte Ergebnis endlich … war ein maßloser Eigendünkel. Wie sollte auch eine Zeit, die ihren Geist als die Inkarnation des Göttlichen betrachtete, der die ganze Natur durchsichtig war, die den Schlüssel zu allen Rätseln der Welt gefunden hatte, anders sein als hochmütig, hochmütig als Menschen und, kraft des Erfinder-Privilegiums, hochmütig als Nation«.

Denk an! Grillparzer hatte sich ernsthaft in die deutschen Meisterdenker hineingelesen und Sachprobleme der Schulphilosophie selbstständig durchdacht. Wortreich beklagte er den Einfluß Hegels auf die Literatur seiner Zeit:

»Die Natur war durchsichtig geworden, die Schlüssel zu allen Rätseln der Welt waren gefunden. Gott war nur noch ein Rattenkönig aus Menschen, oder vielmehr er war ein Deutscher, da die Deutschen ihn nach ihrem Ebenbilde geschaffen, indem sie ihn demonstrierten und allein begriffen. Da die Entwicklung des objektiven Begriffs den immerwährenden Fortschritt notwendig in sich schloß, so konnten die Mitlebenden nicht zweifeln, ihren Vorgängern unendlich überlegen zu sein; wenn nicht an Talent, doch durch die Höhe des Standpunkts, auf den alles ankam«.

Grillparzer beharrt zwar auf einer ontologischen Weltordnung. Zugleich gab er aber Zeichen der Annäherung an den Subjektivismus der Romantik, in der es Leistung des Einzelnen wurde, sich, etwa in Augenblicken musikalischer Entzückung, eines Transzendenten zu vergewissern.

Genau genommen galten Grillparzers Vorwürfe an Hegel für das Systemdenken als Ganzes. Erstens hatte Hegel mit seiner Methode das natürliche Denken des gesunden Menschenverstandes geschmäht, die Systemlosigkeit der Zweifler in Frage gestellt und Spekulationen in alle Richtungen Tür und Tor geöffnet. Gute Philosophie muss ber Stückwerk bleiben, muss im Detail verharren.

Zweitens hatte Hegel durch seine Schwerverständlichkeit den Humus für eine akademische Kultur des Nachbetens und Nachäffens gelegt.

Beides war unverzeihlich in den Augen eines Literaten, der sich als Suchender immer auf den Weg befand, der doch Denken und Dichten irgendwie zusammenbringen wollte. Die fortgesetzte Vereinigung aller Widersprüche musste einer dichterischen Selbstbezüglichkeit verdächtig erscheinen, in der der Inhalt die Form interpretiert und die Form den Inhalt.

Da das dichterische Bild bei der Darstellung die Fehler der Abstraktion kompensiert, konnte Seitter bei Grillparzer auch noch zwei prophetische Hitler-Satiren finden. Die beiden Biedermeiertexte, von denen er dieser Tage den Staub blies, sind betitelt mit War Deklamator und mit Korrespondenznachrichten aus dem Lande der Irokesen.

Im Folgenden ein Grillparzerwort, für dessen Brisanz man während Seitters Lesung nicht einmal das Fenster zu öffnen brauchte. In den Minuten, als Seitter in der Wiener Herrengasse diese Hitler-Travestie aus dem 19. Jahrhundert zum Besten gab, brüllte sich ein Häufchen der rechtsextremen Identitären am nahen Michaelerplatz gerade die Seele gegen die humanitäre Öffnung der Landesgrenzen aus dem Leib:

»Bist du nicht ein Deutscher, rief ich, lebst du nicht in Deutschland, rief ich, und strahlt nicht die Sonne der Deutschheit mit Sonnenglanz durch dein Vaterland. Ich kaufte mir Campes Verteutschungs-Wörterbuch und fing an mich in allen Gesellschaften durch meinen Eifer für das Vaterländische hervorzutun. Endlich kündigte ich Vorlesungen über Deutschheit und die Volkstümlichkeit, das Stück zu 3 Groschen an. Mein Saal blieb leer. Ich erhöhte den Preis auf 1 Thaler, und man riß sich um die Billette. Eintrittszettel wollte ich sagen. Mein Vortrag gefiel. Ich zeigte dass uns bisher nichts als Selbstgefühl gefehlt habe und dass, da unter allen Völkern aller Zeiten die Vortrefflichsten ihre Mitvölker verachtet hätten, wir der Kürze wegen nur mit der Verachtung anderer anfangen sollten, die Vortrefflichkeit würde schon nachkommen. Das leuchtete ein. Um meine Reden anschaulicher zu machen und auch das Äußere unseres Volkes zu beurteilen, legte ich einen Plan zu einer neuen deutschen Volkskleidung vor und erschien selber«.

Für Grillparzer lag der Anfang allen Wissens in der antiken Lehre von der Substanz und Inhärenz. »Indem er den philosophischen Fachbegriffen den umgangssprachlichen Begriff Ding beigesellt«, so Seitter, »gelingt es Grillparzer, die Fachbegriffe verständlicher zu machen und die ›Begriffs-Erschleichung‹ zu vermeiden, die er offensichtlich bei Philosophen vorgefunden hat«.

Und weiter: »Grillparzer entscheidet sich vehement für das Seiende als die primäre Modalität, da es weniger Abstraktion impliziert als das Sein. Er stellt sich sozusagen auf die aristotelische Seite, während er die andere Möglichkeit der hegelschen Spekulation, der Zuviel-Abstraktion zuschreibt. Doch ist diese Alternative wohl weniger von Hegel zur Entscheidung gestellt worden – sondern eher von Heidegger im 20. Jahrhundert und lange Zeit nach Grillparzer. Heidegger nannte diesen Dualismus ontologische Differenz und machte die Frage der Priorität zur Grundfrage der Ontologie sprich Fundamentalontologie. Indem er die Frage zu einer Entscheidungsfrage, also auch zu einer praktischen Frage erklärte, hat er die beiden Begriffe dann doch wieder auf die Ebene empirischer Akzidenzien heruntergebrochen, wie man auf Neudeutsch sagt, und das Seiende als Substanz oder als Ding, das Sein hingegen als Ereignis gefasst«.

Von Grillparzers hegelkritischen Überlegungen ausgehend erscheint Heideggers Fundamentalontologie Seitter wie das Fernergebnis einer jahrhundertelangen Absetzung vom  aristotelischen Common sense. Der Wiener Klassiker im Beamtenstatus, so viel Lob musste an diesem Abend sein, habe der Verstandestätigkeit, im Zusammenwirken mit Empfindung und Darstellung, viel Erkennen abverlangt – sei es im Alltag, in der Politik oder anderswo.

Und wo komplexe Realität von einer sich steigernden, um Empfindung und Formulierung zentrierten Erkenntnistätigkeit erfasst wird, da blühen, wie Seitter sagt, unweigerlich Wissenschaft, Philosophie oder Poesie.

© Wolfgang Koch 2015

Walter Seitter wiederholt den Vortrag am Dienstag, den 10. November, um 19.30 Uhr in der Weinbuchhandlung VINOE, 1080 Wien, Piaristengasse 30.

Foto: Peter Kubelka (Ausschnitt)

 

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Hermann Nitsch: Mein Theater ist eine nonverbale Psychoanalyse

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Es ist schon erstaunlich, was man heutzutage in Wien alles erleben kann. Da erreicht die Kunstszene eine Hiobsbotschaft nach der anderen: der Maler Ernst Fuchs ergab sich letzte Woche dem Tod und die TBA21-Sammlung der Francesca Habsburg, eine der umfangreichsten Privatsammlungen der zeitgenössischen Kunst in Europa, wandert sang- und klanglos nach Zürich ab.

Unglaublich! Gerade erst sind Bawag- und Generali Foundation für den Standort Wien verloren gegangen. Die Privatsammlung Essl in Klosterneuburg existiert nur mehr dank eines Baulöwen, der gerade auch über das Schicksal des Künstlerhauses befindet.

Ein Erdbeben nach dem anderen wirft die Bildende Kunst in Wien um Jahrzehnte zurück, während sich die für dieses Drama doch eigentlich zuständigen Kulturpolitiker Josef Ostermeyer (SPÖ) und Andreas Mailath-Pokorny (SPÖ), die gewiss ihre ideologische Nöte bei der Kooperation mit der Privatwirtschaft haben, auf  Nestroy- und anderen Galas vom Theatervolk den Hintern auskehren lassen.

Es ist schon erstaunlich, dass sich in dieser für die Kunst wirklich katastrophalen Zeit der von echten Räubern und echten  Steuerbehörden drangsalierte Orgienmysteriker aus Prinzendorf in seine Foundation Nitsch setzt und geduldig und scharfsinnig seine Sicht auf das eigene Werk und das Erbe der Psychoanalyse formuliert.

Hermann Nitsch, man kann das nicht oft genug sagen, ist einer der ganz wenigen lebenden Künstler, eine große Ausnahmeerscheinung am Markt der visuellen Sprache, weil er sich im jahrzehntelangen intellektuellen Alleingang eine schlüssige Theorie zu seinem praktischen Schaffen erarbeitet hat.

Nitsch veranstaltet ja nicht nur Aktionspiele, mit denen er eine  große Theaterreform verfolgt, er schmiert nicht nur wollüstig Farbpasten auf makellos weiße Leinwände, er wühlt nicht nur in tierischen Innereien, in denen morgen schon die Würmer hausen, er weist dazu auch die passende Kot-Theorien der psychoanalistischen Bewegung zu zitieren, er komponiert nicht nur Symphonien, sondern vermag sein Schaffen auch in einer rhetorischen Prägnanz zu artikulieren, wie kaum ein Künstlergenosse.

Nitsch behauptet tatsächlich einen therapeuthisch-katharsischen Zweck seiner Arbeit. Sein ungeheuerliches Elementarisieren des Blicks gehörte von Anfang an zu einem Plan, der von wohldurchdachten Ideengebäuden auch schriftlich abgesichert ist.

Denn Nitsch hat schon in jungen Jahren die Werke von Nietzsche und Freud, von Alfred Schuler und Oskar Pfister, von Max Scheler, Carl Gustav Jung, Odo Casel und Georg Trakl selbstständig durchdacht. Und er hat sich tief hingehört in die Klangbauwerke von Richard Wagner und Alexander Skrijabin.

Das alles kristallisierte ab den 1960er-Jahren zu einem Gesamtschaffen, von dem die Menschheit noch zehren wird, wenn der Hype des Virtuellen längst wieder vergangen ist.

Manfred Mikysek_ (179)

Von Sigmund Freud hat Nitsch die Repressions- und Verdrängungsthese übernommen, nicht aber dessen Kulturbegriff, der die Kultur in einen Gegensatz zu Triebhaften positioniert. »Meine Schmierereien«, sagt er «sind das nonverbale Ausloten eines Triebhaften, das meiner Erfahrung nach mit den Mittel der Sprache nicht mitgeteilt werden kann«.

Und Freuds Faszination des Sexuellen, der stellt Nitsch eine pantheistische Seinsmystik im festlichen Exzess gegenüber. Auf diese Weise baut er in seinen Werken unablässig an einer agonalen Verausgabung, an einer Skala der Selbstverschwendung aus dem unabweislichen Gefühl einer Verpflichtung gegenüber der Natur, dem Kosmos und der Tragödie der Menschheit.

»Kunst kann durch Form bewusst machen«, betont Nitsch und berichtet: »Wir haben nach jeder unserer Mysterienspiele drei Tage lang geschlafen und dann vierzehn Nächte lang farbig geträumt. Das Ritual ist aus meiner Sicht eine metaphysische Sprache; man wiederholt etwas, bis es auch der Dümmste kapiert. Meine Kunst geht im taoistischen Sinn den Weg, der das Sein ist«.

Nitsch ist der tiefen Überzeugung, dass wir immer noch mitten in einem dionysischen Zeitalter leben. Nicht nur die Rolle der Weinkeller im Winter deute darauf hin, auch das Hervorbringen der Künstlers in der einmaligen Weltecke des Weinviertels selbst. »Ohne unsere dionysische Landschaften hätten wir keinen Beethoven und keinen Schubert hervorgebracht«.

Für Gottfried Benn, betont Nitsch, sei Kunst »die einzige akzeptable metaphysische Tätigkeit« gewesen, die ein Mensch ausüben kann. Diese elementare Tatsache werde in dem »heutigen Scheisssbetrieb der Kunst, in dem sich alles ums Marketing dreht« völlig übersehen.Kunst ist eine praktische und notwendige Weise der Weltbehandlung.

Das werden die Claquere der Nestroy-Gala nie verstehen.

© Wolfgang Koch 2015

Fotos: Manfred Mikysek

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Der Blogwart sieht mal nach dem Rechten

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DI

Die Klingel, der Lift, das Wiedersehen. Der Wuzeltabak am Küchentisch, Pläne und Begegnungen. Goethe und Gerhard Seyfried, greise Redakteure und schwule Hippster, Karl May als König der Hochstapler. Die Autobiografie: Nadja Petöfsky (»Ich schreibe, darum bin ich«). Der Augarten: …

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Peter M. Schuster lässt sich im Literaturhaus lesen

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Was ist literarischer Erfolg? Stipendien erhalten, werden Sie sagen, Preise einheimsen, Bücher verkaufen und dann gelassen die eigene Ferienmüdigkeit spazierentragen. – Ach, ja, und ach, nein! Es gab immer schon eine kleine Gruppe von Schriftstellern, die den Erniedrigungen auf den …

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Floating Piers: Christos idyllischer Kapitalismus am Iseo-See (1/2)

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Fünfeinhalb Kilometer stoffbelegte Stege und Bahnen, davon drei Kilometer am Wasser, der Rest auf den Uferwegen und in den malerischen Gassen norditalienischer Fischerdörfer – das ist das dritte große Landschaftskunstwerk des amerikanischen Künstlers Christo auf europäischem Boden.

Als der bulgarienstämmige

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Floating Piers: Christos idyllischer Kapitalismus am Iseo-See (2/2)

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»Mir geht es um ein irrationales, kaum greifbares Gefühl von Freiheit«, sagt Christo über sein Landschaftsprojekt der drapierten Spazierwege am Wasser des norditalienischen Lago d’Iseo.

Die Stege, die im Wasser schaukeln und deren Luftpolster zugleich unter dem Tritt nachgeben, sie

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Die Wiederentdeckung des Engelbert Obernosterer

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Letzte Woche betrat ich in Bergschuhen den Buchladen Eder im österreichischen Provinzstädtchen Hermagor und machte eine verblüffende Entdeckung. Die Tische, Regale und Schaufenster waren zur einen Hälfte mit Wanderführern und Tourenkarten bestückt, zur anderen mit Lizenzausgaben englischer Kriminal- und Liebesromane.…

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Enorme Zügellosigkeit und Affekteskalation in Österreich

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Sehr geehrte(r) Brummbart,

die Verantwortung für den Inhalt Ihrer Beiträge liegt bei Ihnen. Unterlassen Sie bitte daher Postings wie:  „Besser Hass im Netz als Hass auf der Strasse“  Diese werden bei uns nicht veröffentlicht, da sie zu keiner sachlichen

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1.000x TATORT: Der Polizeifilm als grosser deutscher Gesellschaftsroman (1/4)

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Letzte Woche entnahm ich dem Holzmedium meines Vertrauens die Kurzmeldung, der Schauspielerin und Multimillionärsgattin Maria Furtwängler, bekannt als Tatort-Ermittlerin Charlotte Lindholm, sei in Hannover kurz vor der Auszeichnung der würdevolle Leibniz-Ring gestohlen worden.
Tags darauf unterrichtete mich das evangelische …

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1.000x TATORT: Der Kriminalfall als filmisches Gesicht des Staates (2/4)

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Der von mir hoch geschätzte Dietmar Kamper sprach 2001, in seinem Entwurf zur Geschichte des Ketzers, davon, die mentale Orthodoxie, das inquisitionsgeborene Gedankensystem der Gegenwart, sei als weltweit installiertes Imaginäres universal geworden:

»Auf allen Druckseiten, Leinwänden und Bildschirmen herrscht eine

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1.000x TATORT: Nackte Leichen und Gier als Chiffre des Kapitalismus (3/4)

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Deutscher Gesellschaftsroman? Filmische Staatsfratze? Bis zur Halbzeit der Obduktion stehen Pfabigans Thesen zum einflussreiche TV-Format auf schwachen Beinen.

Erst dort, wo es um die »Ästhetik der Gewalt« geht, kommt Schwung in die Sache. Mit welchen Mitteln untersucht nun der Wiener

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1.000x TATORT: Politainment und postnazistische Tätereinfühlung (4/4)

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Der schwerste Vorwurf von Alfred Pfabians Tatortphilosophie lautet: Das Unterhaltungssegment des deutschsprachigen Fernsehens sei durch die Serie mit dem Odium des Nationalsozialismus behaftet. Der Wiener Politikwissenschafter erhärtet diese These in drei Argumentationsketten:

1. In der Kontinuität einer Filmsprache, die bereits

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Erzdiözese Wien gewährt 60.000 Ablässe mit Michelangelo

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Am heutigen Tag schliesst nach dreimonatiger Dauer die von Beginn an von scharfen Protesten begleitete Ausstellung »Michelangelos Sixtinische Kapelle in Wien« in der Votivkirche. Bereits im September haben Katholische Jugend (KJ) sowie die Evangelischen Kirchen A.B. und H.B. in Österreich

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Niemand interessiert sich für Július Koller (1/3)

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Unmöglich zu sagen, ob die Welt gut oder schlecht ist (von welchem Ort aus sollte man das beurteilen?), aber ich kann von meinem Schreibtisch aus sehen, wie sie täglich an Lächerlichkeit zunimmt. Jede U-Bahnfahrt in einer Grossstadt hält heute eine

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Wie wird man Walter Seitter gerecht? (1/2)

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Der Wiener Philosoph, Übersetzer und Mitherausgeber der Zeitschrift Tumult ist – nach Franz Brentano, Robert Zimmermann und Fridolin Wiplinger – der vierte bedeutende Aristoteliker in der dramatisch kurzen Geschichte der österreichischen Philosophie.

Dramatisch kurz, weil einerseits das akademische

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