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Warum lächeln die Menschen in den armen Ländern mehr als wir? – Die Weltreise, Teil 2

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Schon in den ersten Monaten ihrer zweieinhalbjährigen Weltreise waren der Schweizer und die Brasilianerin aus Wien enttäuscht von der Abwesenheit staatlicher Institutionen in großen Ländern Asiens wie etwa Indonesien.

In den USA empfanden Adrian Vonwiller und Ligia Fonseca dann genau das Gegenteil: zuviel Staat, alles unterworfen dem Sicherheitsdispositiv. Der Autor des Reiseberichts macht keinen Hehl aus seiner Abscheu vor den übergriffigen US-Behörden. Der Staat diene dort nur mehr dazu, die Sicherheitsdienste zu finanzieren.

Für einen Europäer sei es eine Zumutung, dass er an der Tankstelle zuerst zahlen muss, bevor er seinen Tank befüllen dürfe. Gegenüber dem Konsumenten, der Masse der Menschen, herrsche in den USA eine Art Generalverdacht.

Die führende Weltnation USA habe auf diese Weise eine Klasse von Outcasts hervorgebracht, Menschen am Rande der mehrheitsfähigen Gesellschaftsform, für welche die fehlende Kreditkarte den Weg zurück in die Mitte versperre. »In Europa klagen wir über den Selbstbehalt, die Kostenbeteiligung, die Krankenkassen vom Patienten verlangen. Davon können Amerikaner nur träumen«.

Freilich geht es unserem Reisepaar auch in Kolumbien kaum besser. Hier beklagen sie nicht Korruption und Armut, sondern, dass sich das Leben in Discos, Boutiquen und auf der Gasse in der eisernen Faust von Koksern befindet. Die »Arschlochdroge« mache aus Freunden garantiert Arschlöcher.

Bei Licht besehen entspricht dieses Hin- und Herschwanken zwischen dem beklagenswerten Fehlen von Staatlichkeit und der Angst vor Protektionismus einem durchaus Wienerischen Standpunkt: Man mag die Polizei nicht sehen, aber sie soll bitte auf der Stelle da sein, wenn man sie braucht. Man hasst Steuerzahlen, aber der Zoll soll bitte das Gepäck der Mitreisenden streng kontrollieren, etc.

Niemand hat es besonders leicht auf dieser Welt, in der die Gefahr bekanntlich nicht mehr von Säbelzahntigern ausgeht und die Umwelt in ständig wechselnden Qualitäten auftritt.

Zu Höchstform läuft  unser Reiseautor auf, wenn er die vertrottelte Welt der Segeljachtbesitzer verspottet. Er bekennt sich zu intensivem Wetter, zu Regen, Wind und Sturm, und als paradiesisch erscheinen ihm im Rückblick vor allem zwei Nationen am Ende der Reise: Kuba und Brasilien.

Kuba, Halleluja!

Paradiesisch sei nicht die ganze Insel, nicht die Castro-Romantik, sondern das Havana Centro, wegen der dort gebotenen Livemusik. Musikalität ist dem Ex-Popsänger Vonwiller ein absolut ehrliches und glaubwürdiges Anliegen.

In der Karibik haben die Weltreisenden endlich  die Kakophonie von dreißig asiatischen und pazifischen Nationen hinter sich gelassen. Rumba, Mambo, Son, Salsa – Vonwillen schiessen die Tränen aus den Ohren! »Wie lange muss ein Musiker in Europa spielen, bis er einen Putzfrauen-Tageslohn zusammen hat?«

Freilich erscheint dieses schwingende Havanna, in dem es von den Wäscheleinen tropft, als ein untergehendes, verschwindendes Paradies. Was der Hype um den Buena Vista Social Club noch nicht zugrunde gerichtet habe, so der Kenner und Liebhaber afrokubanischer Rhythmen, das werde demnächst die Öffnung Kubas für nordamerikanische Touristen und Investoren besorgen.

Dem Buch hätte natürlich ein Lektorat genutzt. Es ist aber nicht nur mit Sprachfehlern behaftet, es enthält auf der anderen Seite auch wahre Finessen, etwa, wenn der Autor sich gegen Dudelpop und eine »krude Hausmeister-Elektronik« wehrt, was nicht nur in Österreich als Seitenhieb auf die DJ-Produzenten Kruder & Dorfmeister gelesen wird.

Was das Buch wichtig und wertvoll macht, ist, dass es dokumentiert, welcher physische und psychische Aufwand, welche Anstrengung heute notwendig ist, um überhaupt noch von individuellem Reisen sprechen zu können. Im Panoramabus in den Anden verklebten die beiden Nonkonformisten die Lautsprecher und hängten einen Pullover über den Videomonitor, um die spektakuläre Fahrt über einen 4.750 Meter hohen Pass noch einigermaßen mit den eigenen Sinnen erleben zu können.

Nach zweieinhalb Jahren um die Welt stellten die Globetrotter fest, was die Tourismuswerbung auch so weiß: Dass in Brasilien der Wald am grünsten ist, das Bier am kühlsten, das Leben am angenehmsten. Allerdings, gibt Vonwiller zu bedenken, ist Datenschutz in Brasilien genauso ein Fremdwort wie in den USA, und die Frauen verfetten in geradezu dramatischem Ausmass.

So müssen sich die beiden netten Weltenbummler am Ende des Trips wieder mit ihrem Europa, in dem es Zugreisen bald nur gegen Vorausbuchungen gibt, versöhnen. Denn nur hier, in Europa, existieren auch Pressefreiheit, Arzt- und Postgeheimnis, ein Recht auf Privatsphäre und ein Recht auf Ruhe.

Vonwiller schlägt vor, die Türen dieses fortschrittlichen Europas weit aufzumachen und frischen Wind reinzulassen. Deutschland soll aus der EU ausgeschlossen und der Euro aufgeweicht werden, um mehr Exportgewinne zu erzielen, und die Türkei soll endlich in den Klub der Volleuropäer aufgenommen werden, weil Fleiß und Engagement der Türken die Mentalitäten aller anderen Mittelmeer-Anrainer um Längen übertreffen.

Ligia Fonseca brachte 16.000 Bilder vom Planeten Erde mit nach Hause. Man hätte der 1978 gebornenen Graphikerin eine bessere Digitalkamera und ihren Fotos einen hochwertigeren Druck gewünscht.

Ansonsten aber erscheint auf meinem bleichen Kritikerantlitz ein verklärtes Lächeln.

© Wolfgang Koch 2015

Adrian Vonwiller und Ligia Fonseca: Supermann im Vogelkäfig. Die politisch-unkorrekte Weltreise. Unartproduktion, Dornbirn 2014, 239 Seiten, ISBN: 978-3-901325-87-8, Euro 22,00.

Foto aus Kuba von Ligia Fonseca

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Die Welt, in der die Sozialdemokraten leben

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Regierende Sozialdemokraten haben es wirklich schwer. In Griechenland wurden sie gerade mit nassen Fetzen aus den Regierungsämtern gejagt. In Spanien steht der tief im Korruptionssumpf steckenden PSOE möglicherweise dasselbe bevor. Selbst im Norden wird es den Genossen mulmig in der eigenen Haut, so dass sie inzwischen zu den merkwürdigsten Mitteln greifen, um wieder mit dem kleinen Mann auf der Straße ins Gespräch zu kommen.

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel nahm, weil er ohnehin aus privaten Gründen im Dresdner Raum gewesen sei, an einer Veranstaltung mit Anhängern und Gegnern der systemkritischen Rechtsaußen-Bewegung Pediga teil. Das ist mündig und unverdrossen, es  wird seiner Partei sicher wieder einen kleinen Schritt helfen, die Konjunkturzyklen der Wirtschaft nachhaltig zu beherrschen.

Österreichs Sozialminister Rudolf Hundstorfer, der seiner Partei den wohl schwersten Imageschaden der letzten Jahre zugefügt hat, indem er die Invaliditätspension zu Grabe trug, dieser ständig in den österreichischen Medien für noch höhere Ämter genannte Sozialdemokrat macht sich nach einem Skiunfall im größten Boulevardblatt des Landes über die Lahmheit der Kranken lustig, indem lachend im Unfallkrankenhaus ankündigt, auf Krücken wieder im Ministerium zur Arbeit zu erscheinen. »Die Reha kann ich schließlich nebenher machen«.

Regierende Sozialdemokraten haben es einfach schwer. Erstens schwer, das richtige Augenmaß im »Kampf gegen die Herrschaft der Milliardäre« zu bewahren, den richtigen Takt, den richtigen Ton, das gesunde Quantum an Verstellung. Und sie haben es zweitens schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren, das sowieso. Mit dem Finanz- und Wissenskapitalismus ist in seiner Globalität ja einfach nicht zu Spaßen.

Darum hat im verwehten Herbst die Wiener SPÖ mutwillig eine Programmdiskussion vom Zaun gebrochen. Vielleicht ist ja eine öffentliche Debatte ein Ausweg, um moralisierende Vorbehalte gegen die auf jedes Amt und jeden Posten versessenen Sozialdemokraten zu zerstreuen! Vielleicht ist Geistesarbeit das Richtige, um sich wieder das Image einer weltoffenen Partei zu geben – mit aufmerksamen Ohren für die Sorgen und Nöte der Sesshaften und Nichtsesshaften.

Allein, der Diskussionsprozess der Roten im Wiener Rathaus ist auch nach Wochen und Monaten noch nirgends über eine Metadiskussion hinausgekommen. In der Parteizentrale wird gelegentlich disputiert, wie mit den allenfalls aus Teilorganisationen, allenfalls von Mitglieder oder gar von Nichtmitgliedern eintrudelnde Positionen verfahren werden soll.

In einem auf Jahre veranschlagten Prozess, natürlich.

Da gibt es vier Phasen und acht Themenkreise, es gibt Kick-Offs, wie das heute im Managerseminar heißt, man sucht Moderatoren, und es gibt Rückmelde- und Evaluierungsabsichten, es gibt statistische Erhebungen der Mitgliedermeinungen zu den Grundwerten der Partei, urnette, bunte Tortengraphiken aus dem Farbdrucker, wirklich schön, aber Blitz und Feuer ist noch keines aus den Köpfen geschossen, Kerne des alten Parteiprogramms sind noch keine geschmolzen.

Ein Bürgermeisterzitat, DER GROSSE VORSITZENDE SAGT, das gibt es, energische Blicke, perfekt sitzende Frisuren, die gibt es. Aber alle weiteren Signale an die Öffentlichkeit beschränken sich auf ein Webformular, das den Nutzer in der Welt, in der er da draußen lebt, mit der Botschaft »Meine Idee fürs Programm« empfängt und ihn mit dem Folgesatz »Hier können Sie uns Ihre Idee hinterlassen« auch gleich wieder verabschiedet.

Statt Offenheit in der Kommunikation: freundliche Absichtserklärungen. Statt einem nervenzerrüttelndem Analysieren von dramatischen Nicht- und Scheinbeschäftigungsverhältnissen: das tägliche Lächeln der Politikdarsteller im Fernsehen. Statt Diagnosen aktueller gesellschaftlicher Bruchlinien: ein verschwörerisch herumgereichtes Positionspapier Nr. I des wissenschaftlichen Beitrags der Programmdiskussion mit dem Titel »Die Welt, in der wir leben«, verfasst von sieben Akademikern, die ihre Arbeitsplätze als Volkswirtschaftler, als Trainer für Wirtschaftsführung und ähnliches natürlich nicht ihrem Parteibuch verdanken, sondern einer gemeinsamen elaborierten Sprache.

Nun ist schon klar, dass Parteiprogramme selten etwas mit der praktischen Politik einer Partei zu tun haben. Parteiprogramme sie sind per Definition Beschäftigungsprogramme für idealistische Intellektuelle – sofern eine Regierungspartei überhaupt noch mit so wunderlichen Exemplare aus der Tiefsee aufzuwarten hat.

Parteiprogramme sind ihrer Ideen nach eine Plattform der Verständigung, ein Vehikel der Integration von Randständigem, eine Aneignung und ein Überprüfen von Wissen, vor allem aber sind Programmdiskussionen Akte der ausdauernden Selbstbeschäftigung. Und was tun gebildete Regierungslinke denn überall auf der Welt lieber, als sich ausgiebig, nachdenklich und resignativ mit sich selbst zu beschäftigen?

© Wolfgang Koch 2015

http://wienmachtprogramm.at/meine-idee-fuers-program

Foto: SPÖ Pressedienst

 

 

 

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Die unerhörte schriftstellerische Brillanz von Peter M. Schuster

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Früher war doch einiges besser. Zum Beispiel die Literatur. Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Dichter noch Popstars. Bei ihren Auftritten fielen Frauen in Ohnmacht, und was sie sagten, hatte für eine riesige Gemeinde Gewicht.

Um Karl Kraus zu hören, strömte das gläubige Publikum zu nicht weniger als 600 Lesungen in Konzertsäle. Wenn Jean-Paul Sartre in Paris zu einem Schweigemarsch für einen gute Sache rief, verstummte die Menge wie befohlen.

In den friedlichen Ecken des 20. Jahrhunderts gehörte den Dichtern noch die Welt.

Heute, da der Ideentransfer im Web nicht zu kontrollieren ist, von niemandem, lenkt kein Schriftsteller mehr die Aufmerksamkeit auf sich. Kein Dichter ist tonangebend in der Integrationsdebatte; keiner preist ein Wundermittel gegen den Stress der einen uns die Arbeitslosigkeit der anderen.

Kaum einer, gleichgültig, wie erfolgversprechend seine Bücher sind, hat das Zeug dazu, eine populäre Figur zu sein.

Woran mag das liegen? An den Themen der Gegenwartsliteratur?

Alfred Polgar hat Marlene Dietrich porträtiert, er zeigte sich höchst eingenommen von der Absichtslosigkeit ihres Schauspiels. Eine Huldigung von Rainald Goetz an Concita Wurst würde wohl kein Mensch, der noch bei Verstand ist, lesen.

Schriftsteller haben ihre Aura verloren, die ihnen früher einmal dazu verhalf, weit über den Kreis der unmittelbaren Literaturgemeinde hinaus Bedeutung zu erlangen. An allen Orten der Hochkultur werden sie heute an den gesellschaftlichen Rand derer gedrängt, die sich selbst für die geistige und ökonomische Elite halten.

Als ich kürzlich einen Abend des Österreichischen Schriftsteller/innenverbands besuchte, traute ich meinen Augen nicht. Ich war tatsächlich der jüngste Besucher im Bibliothekssaal des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in der Wiener Vogelsanggasse.

Bevor die drei Autoren des Abends zu Wort kamen, sonderte ein verwuzelter Kärntner einen respektlosen Sermon zum Besuch des Museums ab. Dann saß Heide Loisel, die Bücher mit sehr schönen Titeln macht, an dem blumengeschmückte Lesetischchen zwischen Ausstellungswänden, deren Tafeln uns mit Wirtschaftstatistiken á la Otto Neurath beglückten: »Arbeitszeitverkürzung seit 1950«, »Der Warenkorb«, »Inflation 1991 bis 2015«.

Als ich mich von einer Darstellung der Wechselkursentwicklungen endlich losgerissen hatte, vernahm ich vom Podium die Worte »Blümchen« und »Brauchtum«. Frau Loisel mahnte in Versen, die »Runen im inneren Urgrund zu deuten«.

Nein, dachte ich, auch das wird die Kulturnation nicht bewegen, nicht nach vorne, nicht zurück. Solche Zeilen mögen verletzlich und ungeschminkt sein, sie haben keine Chance als moralische Instanz zu gelten, oder die Mode unserer Zeit auch nur einen Zentimeter zu diskutieren.

Auch die anschließenden Mord- und Totschlagminiaturen von Johann Twaroch taugten nicht dazu. Dieser Ex-Literaturredakteur des ORF gab einen verschmitzten, stark ins Österreichisch-Depressive hineinhängenden Daniil Charms, der auch schon wieder sechs Jahrzehnte tot ist.

Einzig die Lyrik und die Prosa des Physikhistorikers Peter M. Schuster wusste an dem Abend zu überzeugen. Schuster las zunächst aus seinem 2004 erschienen Huldigungsgedicht an den physikalischen Chemiker Joseph Loschmidt, in dem er eine Laboratoriumsatmosphäre schildert, die Molekülketten mit kulturellen Mustern zu erklären versucht.

Nr. 4 Schuster

Wieviel poetische Kraft muss nötig sein, die ausweglosen Sackgassen des Krimischreibens und der faden Schwindler zu vermeiden, um in die Geschichte der naturwissenschaftlichen Forschungen einzutauchen und aus ihr solche leuchtenden Sternbilder hervorholen zu können!

Aber auch dieser begnadete Peter M. Schuster, dessen Texte aller Trivialität entgehen, taugt nicht zur Identifikationsfigur, die ja vom einem Schriftsteller verlangt, dass er zum Repräsentanten seiner Bücher, seiner Ideen und Stellungnahmen wird.

Schuster ist viel zu bescheiden, um als Person zu symbolisieren, was er zu Papier gebracht hat. Er hat ein extrem schwieriges Thema gewählt: die geistigen Abenteuer von Forschern; seine Sprache ist höchst anspruchsvoll, zitiert in Englisch, Französisch, Latein. Und Schuster kann sich aufgrund von beschädigten Stimmbändern selbst mit Mikrophon nur mehr schwer verständlich artikulieren.

Zum Abschluss der Lesung hörten wir ein paar Seiten aus einem unvollendeten Ludwig-Boltzmann-Roman, und darunter die Klage des Protagonisten, dass man 1895 von Leuten regiert werde, die gerade wegen ihres Mangels an wissenschaftlichen Kenntnissen gesellschaftliche Anerkennung erhalten.

Das ist heute nicht anders. Doch hat Boltzmanns Mahnung, von Schuster als Rückschau auf ein stürmisches Leben erzählt, im Karneval der überhitzten Mediengesellschaft überhaupt keine Chance. Ein Wort wie dieses zählt nicht zu einer Zeit, in der überall und ununterbrochen jede dahergelaufene Ansicht geäußert wird.

© Wolfgang Koch 2015

Fotos: W. Blaschnek – Peter M. Schuster und Helmholtz’scher Resonator

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Urexzess mit Trillerpfeife – Hermann Nitsch und das Theater (1)

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Mit einer einstündigen Dankesorgie, mit Festrednern, die wenig Erhellendes zu sagen hatten, und mit einer wunderschönen Live-Aktion eröffnete gestern das Theatermuseum Wien eine Langzeitausstellung zum komplexen Theaterwerk von Hermann Nitsch.

Kurator Hubert Klocker datierte im Wirbel der Blumengeschenke das 1998 in Prinzendorf realisierte Sechstagespiel auf »1989«, und Kulturminister Josef Ostermayer (SPÖ) behauptete vor 300 Gästen, der nicht ganz unbekannte Gustav Klimt habe im Gefängnis gesessen, was einen Politiker in Österreich möglicherweise zu noch Höherem qualifiziert.

Die mit »ExistenzFest« betitelte Schau ist nicht die einzige, die sich momentan in Wien der Geschichte der Aktionskunst widmet; das Mumok tut das auf ganz exzellente Weise. In den verschachtelten Räumen am Lobkowitzplatz setzt man auf lichttechnisch fein aus der Dunkelheit heraus ziselierte Zeichnungen, auf Malereien und Bühnenkostüme. In Vitrinen liegen handgeschriebene Partiturseiten und Bücher der Orgien Mysterien Spiele.

Zunächst aber muss man sich an riesenhaften Videowänden vorbeikämpfen, auf denen dokumentarische Filme von Peter Kasperak den Überwältigungsgestus des Orgien Mysterien Theaters durch Fernsehfarben, Filmschnitt und Überformat noch einmal bis ins Groteske hinein mediale übergesteigern.

Es gibt einen Raum, in dem auf Lebensgröße aufgeblasene Schwarzweissfotos hängen, die vor einem halben Jahrhundert für ein handliches Papierformat aufgenommen worden sind. Diese Blow-ups konfrontiert der Ausstellungsmacher mit grob gewebten und mit Ölkkreide bemalten Aktionshemden in Glasschaukästen – eine Gegenüberstellung von Textil und Fototapete, die einen eher ratlos zurücklässt.

Für den neugierigen Laien ist diese Vermittlung der Theaterarbeiten von Nitsch sicher interessant. Ich vernahm diesen Kommentar von zwei pummeliger Damen vor einem seidenen Bühnenkostüm: »Schau, so blad war die Baltsa!«

Das dürfte wohl die Rezeptionsperspektive einer Mehrzahl von Besuchern dieser Ausstellung sein. Für sie ist das Gebotene sicher gut geeignet. Als Nitsch-Kenner und Liebhaber dieser Kunst aber fragt man sich, warum man über ein kopiertes Liniengewirr am Boden schreiten muss, man fragt sich, was das wohl bedeuten mag, und ob das Orgien Mysterien Theater wirklich so klar dem bürgerlichen Bühnentheater zuzuschlagen ist, oder ob es nicht eher zum antiken Mysterienkult neigt, also im Dramenspiel der Griechen seine wichtigste Quelle hat.

Ich frage mich weiters, warum ich Nitschs Mitwirkung an sechs Bühnenproduktionen in Wien, St. Pölten, Zürich und München präsentiert bekomme, aber seine krude Behandlung durch die Direktion der Wiener Staatsoper keine Erwähnung wert ist.

Zur Erinnerung: Im Februar 1998, unmittelbar vor der ersten und einzigen Realisierung des Sechstagespiels, hatte der Chef des Hauses am Ring, Ioan Holender, den Künstler eingeladen Richard Wagners Bühnenweihspiel Parsifal »mit einem wichtigen neuen Dirigenten« zu erarbeiten. Damit wäre einer der größten Theaterwünsche von Nitsch in Erfüllung gegangen, nämlich einmal wirklich Regie bei der Gralslegende zu führten, und nicht nur Inszenierungen anderer mit Versatzstücken der eigenen Arbeit auszustatten.

Dazu ist es nie gekommen! In Österreich gab es 1999 einen politischen Rechtsruck und auf einen Wink des konservativen Regierungschefs Wolfgang Schüssel (ÖVP) hin lud Holander den Künstler von dieser Produktion an der Staatsoper wieder aus.

Dieser unglaubliche Vorgang der österreichischen Theatergeschichte – dessen Hauptakteure heute mit Traumbezügen ihre Traumpensionen genießen, während der damals betrogene Künstler im hohen Alter vom österreichischen Finanzamt drangsaliert wird –, dieser im Grund kulturpolitische Mega-Skandal wird in Ausstellung und Katalog des Theatermuseums nicht einmal gestreift.

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Im letzten Raum erwartet den Besucher das Original der 4,5 Meter langen Stiertrage, ein bei Prozessionen durch sommerliche Weizenfelder benutztes Holzgefährt. Auf der Plattform dieser formschönen Trage führten Nitsch und eine Helferin an einem ans Kreuz gebundenen Akteur die Schüttaktion »Blut in den Mund« aus. Eine Schlüsselszene im Existenzfest.

Lärmmusik und Weihrauchgeruch drangen zögernd aus einem Nebenraum. Gelb blühende Blumen und eine Eisenmonstranz mit Kerzenwachs, ebenfalls von 1998, beschleunigten Bildassoziationen in alle möglichen Richtungen.

Das war schon einigermaßen überraschend, dass eine solche, viele Jahre unter freiem Himmel ausgeführten Aktion auch in diesem kleinen, kammermusikalischen Rahmen bestens funktioniert. Räumlich gesehen kam die Performance damit wieder dort an, wo sie einmal ihren Ausgang genommen hatte: in engen Privaträumen, Künstlerküchen, Kellerabteilen.

Die Kunstaktion wanderte im Theatermuseum wieder zurück in die Kammer.

© 2015 Wolfgang Koch

Theatermuseum Wien: ExistenzFest, Hermann Nitsch und das Theater.

1010 Wien, Lobkowitzplatz 2, bis Jänner 2016

Zweiprachiges Begleitbuch von Hubert Klocker, Thomas Trabitsch und Michael Buhrs im Verlag Hatje Cantz, 224 Seiten, ISBN-Nr.: 978-3-77573-995-5, 35,- Euro

www.theatermuseum.at

 

Fotos:

Stiertrage, 1998: Holz, Eisen, Blut auf Molino (Nitsch Museum Mistelbach)

16. Aktion des Orgien Mysterien Theaters, 1965 (Franziska Cibulka, Mumok Wien)

 

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Man gebe mir einen Schmerz – Hermann Nitsch und das Theater (2)

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Der Katalog zur Ausstellung »ExistenzFest« im Wiener Theatermuseum bietet durchaus brauchbare Informationen zur Annäherung an die komplexe Theaterarbeit von Hermann Nitsch. Neue theaterwissenschaftliche Erkenntnisse oder funkensprühende kulturtheoretische Thesen aber sucht man vergeblich.

Auf den Katalogseiten ist viel von der »schwierigen kulturpolitischen Rekonstruktion und Identitätsfindung« in Österreich ab 1945 die Rede, von der seinerzeitigen »Neubestimmungen der Kunst« und den »utopischen Werkpositionen« der 1960er-Jahre. Wirklich Neues erfährt der Leser dabei nicht, und so tröstet man sich bald mit dem Gedanken, dass das in einem Museum ja auch nicht unbedingt sein muss.

Will ein Museum aber mehr sein als ein Ort der Bewahrung, nämlich ein Institut der Forschung, ein Labor, das mit seinen Objekten geordnete Fakten auf den Tisch legt oder unverbrauchte Blickwinkel erprobt, dann ist die Bilanz dieser zwei Jahre lang vorbereiteten Schau eher bescheiden.

Gewiss, der Katalog bietet die heute überall üblichen Bildungsschüsseln auf, um sich dem Theatralischen im Werk von Hermann Nitsch zu nähern: Platons Höhlengleichnis, Piranesis Carceri, Adornos Diktum über Gedichteschreiben nach Auschwitz,… Der slowenische Schurbelmarxist und erklärte Pornograph Slavoj Žižek kommt als Autorität zum Thema »entbanalisierte Liebe« zu Wort – aber wir schreiben heute bitte nicht mehr 1995, sondern zwanzig Jahre später.

Kurator Hubert Klocker betont in seinem Beitrag ein »Primat der Wahrhaftigkeit und des Libertären», drei Seiten weiter spricht er dann von einer »egalitären und libertinären Bewusstseinserweiterung«. Was denn nun?

Der intellektuelle Kopf der Ausstellung kann sich nicht zwischen dem »Libertären« und dem »Libertinären« entscheiden, und es ist wohl von Glück zu sprechen, dass er nicht auch noch den »Libertarianismus« kennt, eine Bürgerrechtsbewegung, die auf eine vollständige Abschaffung und Beschränkung des Lesens zielt.

Richtig ist, dass wir es beim Orgien Mysterien Theater mit einer additiven Konstruktion zu tun haben. Klocker beobachtet, dass sich dieses Gesamtkunstwerk und seine Rezeption unablässig verändern, dass einmal mehr das statische Bildobjekt der Ereigniskunst im Vordergrund stehen, dann wieder die Musik oder das Theater, und nur sehr selten die Literatur.

Es stimmt auch, dass alle Postavantgarden der 1960er und 1970er irgendwie miteinander zu tun haben, auch Nitsch und das legendäre Living Theater waren mal Zeitgenossen. Zur Tatsache, dass die Konzepte von Julian Beck und Hermann Nitsch aber viel mehr trennt als sie vereint, liegt seit fünfzehn Jahren eine deutsche Magisterarbeit aus Krefeld vor.

Der Theaterregisseur Herbert Blau vertritt die Ansicht, die Wiener Aktionisten hätten nach einer Kunst gestrebt, »die Kunst zerstörte«. Das scheint mir mit dem Destruction in Art-Symposion, zu dem Nitsch 1966 erfolgreich nach London eingeladen wurde, gründlich widerlegt worden zu sein.

Die Aktionisten erkannten das Schöpferische an der Zerstörung, verkaufen aber wollten sie ihre Arbeiten immer ganz gerne.

Der wenigstens sprachlich originelle Frank Gassner verweist darauf, dass Nitsch »der letzten Generation angehört, die sich der Benutzung jedes digitalen Geräts weitgehend entziehen kann«. Das wieder ist nur halbrichtig, weil Nitsch eben mit technikaffinen Assistenten wie Gassner selbst arbeitet.

Vor zweihundert Jahren hätte man über jeden europäischen Fürsten sagen können, dass er sich der der Benutzung der Peitsche weitgehend entziehen kann. Dafür besaß er schließlich einen Kutscher.

Stanford-Professor Adrian Daub nähert sich umständlich dem Klanggeschehen im Orgien Mysterien Theater und reanimiert zunächst ein längst tot geglaubtes Vorurteil. Seiner Ansicht nach werde die Musik Gustav Mahlers »weitgehend ironisch« in den Musikcollagen von Nitsch eingesetzt, und die Ländler und Schuhplattler sogar »satirisch«.

Bei vielen Prinzendorfer Festen kann der Mann noch nicht anwesend gewesen sein. Denn eine der musikalischen Leistungen von Nitsch besteht ja gerade darin, volkskulturelle Elemente ohne einen ironischen Hintergedanken zu zitieren, die kulturellen Traditionen gegen alle intellektuellen Vorbehalte harmonisch in sein Werk zu integrieren.

10_Hermann_Nitsch_50.Aktion_1975

Richard Wagner, Anton Bruckner, Alexander Skrijabin – all diese Bezüge zur Kunst von Nitsch sind seit vielen Jahren nicht nur einer Fachwelt bekannt. Man muss einmal damit beginnen, neue Frage an dieses Werk zu stellen. Das Aleatorische und Ludische der Musik, das, was Nitsch unter »organisierten Zufällen« in seinen Kompositionen versteht, könnte zum Beispiel auch etwas mit der Tondichte im zeitgenössischen Jazz zu tun haben.

Immerhin entdeckt Daub das Sittlichkeitsbemühen, den Läuterungsgedanken in der Existenzmusik von Nitsch. Und er nutzt die bewegte Biographie des Künstlers für eine kluge Beobachtung. Daub stellt nämlich einen Zusammenhang her zwischen dem höllischen Lärm der Bombardements, die der Komponist als Kriegskind erleben musste, und der bedrohlichen Stille, die den im Luftschutzbunker wartenden Menschen damals einen tödlichen Treffer angezeigt hat.

Drei der Autoren des Katalogs beziehen sich auf das Lesedrama Die Eroberung von Jerusalem (1973) als geistige Quelle der Theaterarbeit. Das leuchtet mir wenig ein. Wie könnte diese fiktionale Literatur mehr Aussagekraft zur szenischen Arbeit besitzen als die seitenlange Selbstaussagen des Künstlers in seinen theoretischen Schriften?

Ein Beiträger schwärmt reichlich blauäugig vom »tranceartig fließenden Zustand«, in den das unterirische Höhlensystem dieser Horror-Literatur die darin herumwandernden Figuren versetzt. Dass dieser fließende Zustand auf einer explizit ausgekosteten Mordlust basiert, wird dem Leser tunlichst unterschlagen. Auch, dass Nitsch als Verfasser die Existenz dieses monströsen Textes schon mehrfach bedauert hat, sollte heute nicht mehr unterschlagen werden.

Die Liste der Mängel und Lücken ist lang. Dass das deutschsprachige Feuilleton und die Theaterfachpresse durchaus geteilt auf manche Eingriffe des Künstlers in die ausgestatteten Stücke reagierte, verschweigen uns Ausstellung und Katalog vollständig.

Kritiker haben ja nicht immer nur gejubelt. Man hat zum Beispiel die Projektion eines Caspar David Friedrich-Motivs in Messiaens Vogelkonzert als ein »ärgerliches Missverständnis einer grandiosen Partitur« bezeichnet, als »übersüßen Kitsch der Ornithologie«; die Theaterkritik hat den Einsatz von Theaterblut in den Teilrealisierungen des Orgienmysteriums hinterfragt und ob Freiluftszenen wirklich mit Gewinn in Theaterhallen umgesetzt werden können.

Das alles waren interessante, anregende öffentliche Diskussionen zum theatralischen Werk von Hermann Nitsch.

In der Ausstellung »ExistenzFest« blitzt kein Funken davon auf. Das Schaffen des Künstlers scheint in einer ewigen Polarität von Befürwortern und Rabiatgegnern stattzufinden, ob als es nicht auch differenzierte Standpunkte gäbe; das ritualisierte Theaterwerkel wird in diesem staatlichen Museum zur sanftmütigen Fortsetzung eines Kulturkampfes erhoben, der in Wahrheit immer nur stattgefunden hat, wenn sich der träge österreichische Boulevard zu einem Emotionsfeuerwerk entschließen konnte.

© Wolfgang Koch 2015

Theatermuseum Wien: ExistenzFest, Hermann Nitsch und das Theater.
1010 Wien, Lobkowitzplatz 2, bis Jänner 2016

Zweiprachiges Begleitbuch von Hubert Klocker, Thomas Trabitsch und Michael Buhrs im Verlag Hatje Cantz, 224 Seiten, ISBN-Nr.: 978-3-77573-995-5, 35,- Euro

www.theatermuseum.at

Fotos:
Manuskript des Orgien Mysterien Theaters, 1965. Roter und blauer Kugelschreiber auf Papier (Österr. Ludwig Stiftung Wien)

50. Aktion oder Eintagespiel in Prinzendorf, 1975 (Archivio Conz)

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Wiener Aktionismus – Mein Körper ist die Konfusion

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Ausgerechnet in den ehemaligen Wiener Hofstallungen wurde letzte Woche die Kunst des Wiener Aktionismus diskutiert. Die horrible Akustik in diesen Sälen des Museumsquartiers gehört zu den stärksten Tabuthema im Kulturleben der Weltstadt von eigenen Gnaden, da ja alle Verantwortlichen für die millionenteure Renovierung – die Architekten und Planer, die Kulturpolitiker und die involvierten »Experten« des Architekturzentrums – noch leben und weiterwirken zum Segen des vernuschelten Wortes.

Aber das Wiener Publikum hält brav still oder bleibt in Massen zu Hause. Denn in dieser Stadt wird man lieber behaupten, der Mangel an Verständlichkeit der Worte liege am schwierigen Thema und nicht an den Bausünden der Vergangenheit. Aber so ist es keineswegs.

Es stimmt natürlich, dass sich der akademische Diskurs über den Wiener Aktionismus seit den 1970er-Jahren im Kreis dreht. Gesteuert von bestens organisierten Sammler- und gut geölten Archivarenkreisen pendelt die Interpretation des Avantgardeepoche 1962-1971 zwischen den beiden Extremen: a) Der Wiener Aktionismus war ein viriles Aufbegehren gegen den postnazistischen Konsens der österreichischen Nachkriegsgesellschaft, und b) Der Wiener Aktionismus war eine Reihe körperliche Selbsterfahrungen, bei der die menschliche Natur den Angelpunkt der Wertschöpfung abgab.

Beim Symposion »Mein Körper ist das Ereignis«, veranstaltet vom Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, schlug das Pendel naturgemäß stärker in die zweite Richtung aus. Wirklich Neues und Exzeptionelles war bei den Vorträgen und Podiumsdiskussionen nicht zu vernehmen. Die »Verortung im internationalen Kontext« glich wieder einmal jener bereits bekannten Zwischenlösung, die das provokante Produkt Life Art in die Felder von Tanz und Theater auszulagern versucht.

Wiener Aktionismus Mumok 2015 007

Die deutsche Theaterwissenschafterin Barbara Gronau aktivierte die ausgelatschten Begriffe »Ritual« und »Transgression«, um historischen Aktionen neue Töne zu entlocken, womit aber letztlich wieder nur das Nichtbenennbare an der Inszenierung oder das Gesellschaftskritische in der Rezeption appliziert wurde.

Unter Ritual versteht Gronau eine »transformative Handlung«, die einem Muster folgt, die sich auf Normen und Werte bezieht, die einerseits dynamisch eine transformative Kraft entfaltet und zugleich stabilisierend und existenzsichernd wirkt.

Als Beispiele für dieses Wunderding dienten ihr die mehrtägigen Orgien Mysterien Spiele von Hermann Nitsch sowie mehrere Aktionen von Joseph Beuys, darunter die fünfstündige Publikumsperformance »Celtic+~~~« am 5. April 1971 in einem Basler Zivilschutzbunker.

Dass Rituale unbedingt wiederholbar sein müssen, um als solche gelten zu dürfen, dieses Kriterium wurde von der Referentin wohlweislich unterschlagen – denn es hätte ja nur auf Nitsch zugetroffen, der seine mythotheatralischen Aktionen mit Hilfe von Spielpartituren tatsächlich reproduzierbar macht. Für das Gros künstlerischer Aktion in den letzten dreißig Jahren aber gilt das nicht; sie betonten die Einmaligkeit des Aktes, die Unwiederholbarkeit des Erlebens.

Also ist für Aktionskunst höchstens der Terminus »Quasiritual« brauchbar, und  SymposionsteilnehmerInnen, die diesen Mangel empfanden, schwindelten sich in der Regel mit dem Terminus »Ritual Patterns« über den Abgrund.

Die Theaterforscherin Sandra Umathum widmete sich der Kunst des Schießen in Galerien und Museen. Dabei fiel auf, dass Niki de Saint Phalles Schießbilder mit großem feministischem Wohlwollen bedacht wurden; Umathum sah darin einen »Akt der Abreaktion« von der als Kind sexuell missbrauchten Frau; sie sah darin den Wunsch zu terrorisieren, ohne sich schuldig zu machen; und die Idee der Geburt durch Zerstörung.

Im Kontrast dazu musste sich Chris Burdens berühmte Aktion Shoot  vom 19. November 1971 den Vorwurf gefallen lassen, ein maskulines Klischee zu inszenieren, den Augenblick der Angst kalkuliert-heroisch und kontrolliert darzustellen. Immerhin sei kein Arzt, ja nicht einmal Verbandszeug in der Galerie in Santa Ana zur Hand gewesen, als sich Burden vor zwölf Augenpaaren in den Oberarm schießen ließ.

Im Sinn des Künstlers betonte die Vortragende die »Erfahrung des Angeschossenwerdens«. Das wäre nun genau der richtige Moment gewesen, um auf die fulminanten Arbeiten des Libanesen Rabih Mroué zu sprechen zu kommen. Dieser Künstler hat – hochaktuell, präzise und analytisch – den Blick der Opfer auf den Täter in den Kriegen im Irak und in Syrien zu seinem Thema gemacht.

Interessant Umathums Hinweis auf einen leicht zu übersehenden Aspekt von Wafaa Bilals Domestic Tension. Im Mai 2007 ließ sich dieser irakstämmige US-Künstler 31 Tage lang in einer Galerie mit etwa 60.000 ferngesteuerten gelben Paintballs beschießen. User aus 128 Ländern nahmen an einer Art Milgram-Experiment teil und machten sich per Internethunting zum Lebensfeind des Künstlers, oder wie Umathum sagt: »Hier setzte der Künstler erstmals das Publikum als Gegner«.

MUMOK

Der Tanzkurator Eike Wittrock beschäftigte sich mit der hybriden Praxis des Neoschamanismus, einer Subströmung im zeitgenössischen Tanz, die sich ungeniert der aktionskünstlerischen Formensprache bedient und damit den Musealisierungsprozess der Life Art auf ihre Weise beschleunigt.

In diesem ekstasesüchtigen Genre steht die Selbstrepräsentanz der ewig jungen Community von Tanzfestivals im Vordergrund. Man isst, man schläft und man tanzt gemeinsam. Man nimmt Drogen, man bedient sich körpertherapeutischen Bewegungsmaterials, man ironisiert esoterische Ansätze mit Schwitzhütten in der Fußgängerzone, Popmusik oder Masken. Als erklärtes Feindbild des szenischen Neoschamanismus gilt der durch Fitness- und Wellnessmoden geschönte Körper.

Als Exempel für sein Theaterdispositiv dienten Wittrock unter anderem die grotesk-expressiven Arbeiten von Florentina Holzinger und Vincent Riebeck, einem Tänzer, der in der gemeinsamen Produktion Kein Applaus für Scheiße das Ekelkunststück fertig brachte, einen Liter blau gefärbte Reisdrink auf die weiblichen Brüste zu kotzen.

Keine Frage, dieser tänzerische Neoschamanismus ist für Groß & Klein sehr unterhaltsam. Er bleibt uns aber bisher die Antwort schuldig, wo denn nun die ästhetischen Grenze zur BDSM-Kultur verläuft. Dass man für den hübschen Theaterekel Subventionen und die Unterstützung von staatlichen Kulturinstituten erhalten kann, die SM-Orgie aber in die strengen Kammern einer geschlossenen Gesellschaft verbannt bleiben muss, das reicht der kontrollierenden vierten Gewalt im Staate, der Pressekritik, bitte noch nicht.

© Wolfgang Koch 2015

 

Fotos: mumok/ Krinzinger/ Abramović

Marina Abramović: Art Must Be Beautiful, 1975

Carolee Schneemann: Meat Joy, 1964–2008

Laurent Ziegler: Ausstellungsansicht, 2015

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Zwei Wiener Ausstellungen im Vergleich

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A museum moderner kunst stiftung ludwig wien (mumok): Mein Körper ist das Ereignis. Wiener Aktionismus und internationale Performance, Museumsplatz 1, Erwachsene 10 Euro, bis 23. August 2015

13_Herman_Nitsch_und_das_Theater_Ausstellungseinblick_Theatermuseum

B Theatermuseum: ExistenzFest. Hermann Nitsch und das Theater, Lobkowitzplatz 2, Erwachsene 8 Euro, bis 11.1.2016

MUMOK

A museum moderner kunst stiftung ludwig wien (mumok): Mein Körper ist das Ereignis. Wiener Aktionismus und internationale Performance, Museumsplatz 1, Erwachsene 10 Euro, bis 23. August 2015

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B Theatermuseum: ExistenzFest. Hermann Nitsch und das Theater, Lobkowitzplatz 2, Erwachsene 8 Euro, bis 11.1.2016

MUMOK

A museum moderner kunst stiftung ludwig wien (mumok): Mein Körper ist das Ereignis. Wiener Aktionismus und internationale Performance, Museumsplatz 1, Erwachsene 10 Euro, bis 23. August 2015

14_Herman_Nitsch_und_das_Theater_Ausstellungseinblick_Theatermuseum

B Theatermuseum: ExistenzFest. Hermann Nitsch und das Theater, Lobkowitzplatz 2, Erwachsene 8 Euro, bis 11.1.2016

MUMOK

A museum moderner kunst stiftung ludwig wien (mumok): Mein Körper ist das Ereignis. Wiener Aktionismus und internationale Performance, Museumsplatz 1, Erwachsene 10 Euro, bis 23. August 2015

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B Theatermuseum: ExistenzFest. Hermann Nitsch und das Theater, Lobkowitzplatz 2, Erwachsene 8 Euro, bis 11.1.2016

MUMOK

A museum moderner kunst stiftung ludwig wien (mumok): Mein Körper ist das Ereignis. Wiener Aktionismus und internationale Performance, Museumsplatz 1, Erwachsene 10 Euro, bis 23. August 2015

11_Herman_Nitsch_und_das_Theater_Ausstellungseinblick_Theatermuseum

B Theatermuseum: ExistenzFest. Hermann Nitsch und das Theater, Lobkowitzplatz 2, Erwachsene 8 Euro, bis 11.1.2016

© Wolfgang Koch 2015

Fotos: Theatermuseum Wien, Mumok/ Laurent Ziegler

 

 

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Hubert Schmalix – Klappernde Mühlen am rauschenden Bach

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Es gehört schon einige Chuzpe dazu, sich in die pipifeinen Mamorhallen des Bank Austria Kunstforums auf der Wiener Freyung zu stellen und in den Tagen, da der Krieg in der Ostukraine wieder aufflammt, in den Tagen, da der Bürgerkrieg in Syrien ins fünfte Jahr geht, in den Tagen, da in Gefechten in Afganistan und im Irak ohne Ende Menschen sterben, in den Tagen, da illegale Zuwanderer zu Hunderten im Mittelmeer ertrinken, ganz zu Schweigen vom Sudan und von Nordmali… – es gehört wirklich einige Chuzpe dazu, sich als Künstler in dieser zeithistorischen Situation auf einen Barhocker zu schwingen und in die Kameras zu sagen:

»Dramen sieht man im Fernsehen: 24 Stunden Krieg, Verzweiflung und Tod. Man kann das gar nicht überbieten mit einem Bild. Da hat der Maler gar nichts mehr zu suchen. Das wäre Perversion, da etwas damit zu machen«.

Und es gehört eine gehörige Portion Provinzialität dazu, wenn der ORF dieses heillose Statement des Künstlers Hubert Schmalix in den sogenannten Hauptnachrichten des Fernsehprogramms, der Zeit im Bild 1, der Nation als mitteilenswerte Kulturneuigkeit offeriert.

Aber so ist sie eben, die selbsternannte Kulturhauptstadt Wien, die den Mitgliedern ihrer Bussi-Bussi-Gesellschaft jede nur erdenkliche Dummheit durchgehen lässt.

Kunst muss nichts überbieten. Das ist der erste Irrtum! Kunst muss überhaupt nichts. Darum muss sie auch nicht zu den Gewaltorgien der Gegenwart Stellung nehmen, das stimmt schon, Kunst muss keineswegs engagiert sein, wie das manche Progressive immer noch verlangen.

Aber es macht einen himmelhohen Unterschied, ob die Kunst das Engagement freiwillig links liegen lässt oder jede Möglichkeit einer Thematisierung von Krieg, Verzweiflung und Tod einfach in Abrede gestellt wird.

Schmalix ist ein Abgänger der Wiener Akademie und lebt seit dreißig Jahren vorwiegend in Los Angeles. Erweitert hat das seinen Horizont offenbar nicht. Denn es gibt durchaus sehr gute Gegenwartskünstler, aufgeweckte Zeitgenossen, die nicht vor den TV-Bilder kapitulieren und uns sehr genau Auskunft geben über aktuellen Dramen in der Welt und in den Köpfen. Ich nenne nur die pink leuchtende Kriegsmeditation The Impossible Image des irischen Dokumentar-Fotografen Richard Mosse über die Gewalt im Kongo von 2013; ich nenne die fulminanten Arbeiten des Libanesen Rabih Mroué, der den Blick der Opfer auf den Täter in den Kriegen im Irak und in Syrien untersucht. Hermann Nitsch hat im türkischen Çanakkale vor wenigen Tagen ein monumentales Gemälde mit dem Titel »Mahnmal gegen den Krieg« der Öffentlichkeit präsentiert.

Das alles sollen Perversionen sein? Nein, Herr Schmalix, wirklich nicht! Das sind kluge ästhetische Analysen, die andere Wissenssysteme nicht leisten können, und es sind moralisch notwendige Einsprüche gegen die Brutalitäten der Zeit, die darum auch auf jedes »poppige Image« verzichten können.

Schmalix behauptet von Maria Lassnig malen gelernt zu haben – gut, und warum tut er das dann nicht?

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Wir sehen im Kunstforum Wien ungelenke Gouchen mit nackten Filippas; wir stehen vor Gemälde mit tapetenartigen Hintergründen, auf denen steife weibliche Körper schweben; laue Irritationen mit großflächigen Teppichmustern, Pinselangeberein. Wir sehen Comics-Motive in der Farbpalette japanischer Holzschnitte; Konturenmalerei á la C. O. Paeffgens; wir sehen Formenspiele mit mehr oder weniger glatt aufgetragenen Farben – alles bestens geeignet für das Entré eines Immobilenmaklers, für die Lobbys von Altenheimen und Waffenhändlern.

Diese Montagebilder des Hubert Schmalix sind genau das, von dem Jonathan Meese kürzlich gemeint hat, der Kunstmarkt versuche dem Publikum Design als Kunst anzudrehen.

»Ich sehe mich als Dekorateur«, sagt Schmalix über sich selbst. »Es drängt mich dazu, nichts zu sagen, ich möchte nur den Gegenstand bei mir haben«.

Na, schön!  Aber was haben dann diese Dekos in Galerien, Kunsthallen und Museen zu suchen? »Wir dekorieren die Welt nicht«, hat Susan Hiller 2012 mit bedeutend mehr Gewicht gesagt. »Wir Künstler leisten wirkliche Arbeit«.

© Wolfgang Koch 2015

 

Fotos:

Cathedral von Hubert Schmalix, Öl auf Leinwand, 2014 – Lee Thompson

Ausstellungseröffnung mit philosophischem Adabei, leisure.at/Oreste Schaller

 

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Walter Seitter – Das symbolische Kapital der Merve-Kultur (1/2)

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Der Wiener Philosoph Walter Seitter, für den der Gebrauchwert der Arbeit die Arbeitslust ist, führte im langen Sommer der Theorie einer Schar besessener Leser an.

Die wilde Akademie, die zwischen 1960 bis 1990 in deutschen Studierstuben tagte, die in Hängematten und auf WG-Matratzen las, ersetzte dabei auf verschlungenen Wegen die Autoren der Kritischen Theorie durch die Schriften sogenannter französischer Modephilosophen. Heute wärmen sich die Teilnehmer dieses Lesemarathons einer ganzen Generation an den Lagerfeuern des Kunstbetriebs und braten immer kleinere Kartoffelpuffer.

Nicht so Seitter. Der überhaupt nicht. Dieser glatzengeschmückte Wiener Denker und Autor nimmt zweimal die Woche in einem Nobelcafé hinter den Blättern von Le Monde Platz und veranstaltet weiterhin jeden Mittwoch ein Platon-Seminar (Hermesgruppe). »Intensität« und »Dispositiv«, »Nomadologie« und »Tumult«, »Simulakrum« und »Wunschrevolte« – diese Codes der damaligen akademischen Avantgarde sind für ihn nie wieder zu leeren Worthülsen geworden, sein Philosophentum besteht immer noch in emphatischem und respektlosem Lesen.

Im Augenblick beschäftigt sich Seitter hingebungsvoll mit Otto Weininger und den Denkern des Wiener Kreises, mit Otto Neurath und dem vergessenen Außenseiter der Zwischenkriegsepoche, dem österreichischen Wissenschaftssoziologen Edgar Zilsel.

Die wilde Akademie der Frankophilen, die mag in den letzten dreißig Jahren im Gleichschritt mit den Traditionsbuchhandlungen dahingeschmolzen sein, an unerschrockener Entdeckerfreude und an intellektueller Unberechenbarkeit hat sie jedenfalls nichts eingebüßt.

Mit Seitter kann man so trefflich über Grillparzers Hegel-Satire schwätzen wie über Nietzsches Grillparzer-Begeisterung. Er ist ein vor Aperçus sprühender Intellektueller, ein mit dem maßlosen Glauben an den Unterhaltungswert von Ideen ausgestattet Renaissancemensch, den es durch irgendwelche Winke des Schicksals nacheinander in die Studentenrevolte 1968, dann unter heilige gotische Kuppeln, in die Strandkörbe von Sylt und nun eben –  ja, warum nicht? – in das Rokoko-Interieur einer Zuckerbäckerei verschlagen hat.

Für den österreichischen Geist, falls es so etwas überhaupt gibt, zeigt Seitter wenig Interesse, er betrachtet dieses Phantom wie ein rätselhaftes Insekt, vorsichtig von der Seite.

»Schauen Sie, Wien ist die kleinste Weltstadt der Welt. Vor sechzig Jahren ist Lacan hierher gefahren, um seinen Vortrag Das Freudsche Ding oder Sinn einer Rückkehr zu Freud in der Psychoanalyse zu halten. Während des Vortrags vollzog er eine überraschende Hinkehr zum Pult und erteilte ihm das Wort. Diese Wendung Lacans zu seinem aktuellen Nächsten, seinen momentanen Zeit- und Ortgenossen, greife ich immer wieder auf, um die topischen Dimensionen des Denkens zu erörtern«.

Ein Mitkurator der vielen Theoriewerke aus dem heißen Sommer, der Deutsche Ulrich Raulff, nannte Seitter in seinem im Vorjahr erschienen Rückblick (»Wiedersehen mit den Siebzigern«) einen »österreichischen Katholiken« und einen »Ikonophilen«.

»Ein österreichischer Katholik ist eigentlich eine Tautologie«, sagt Seitter schmunzelnd, und man erinnert sich, in dem Mann ja auch einen Thomas Bernhard-Leser vor sich sitzen zu haben. Wer war denn das unter Österreichs Gebildeten in den letzten Jahrzehnten nicht – ein Thomas-Bernhard-Leser?

Heute ist Bernhard schon fast so vergessen wie Roland Barthes, Jean Baudrillard oder Gilles Deleuze – diese Lichtgestalten jener Lesegeneration, die tatsächlich erfolgreich Theorie in ein ästhetisches Erlebnis und ein Lifestyle-Accessoir verwandelt hat.

Seitter, der Ende der 1960er-Jahre bei Heideggerianern in Freiburg studierte, fuhr ab 1967 immer öfter nach Paris, hörte sich bei Raymond Aron in die französischen Vorlesungsstil ein und wechselte auf seiner Wahrheitssuche bald zu Claude Lévi-Strauss und Michel Foucault.

Sechs Jahre davor hatte Foucault seine fulminante Großstudie Naissance de la Clinique/ Die Geburt der Klinik –  eine Archäologie des ärztlichen Blick – in Wien abgeschlossen. Dafür hatte es kleinen geeigneteren Ort in Europa gegeben. Die Donaumetropole war schließlich die medizinischen Hauptstadt des 19. Jahrhunderts gewesen.

Im Archiv des Josephinums in der Währingerstrasse sitzend, nur einen Steinwurf von der Berggasse entfernt, hatte Foucault unter anderem Peter Johann Franks, ab 1776 in sechs Bänden publiziertes Hauptwerk System einer vollständigen medicinischen Polizey nach allen Regeln seiner Kunst seziert.

Da der Suhrkamp Verlag null Anstalten machte, Foucaults Studie aus dem Französischen ins Deutsche zu übersetzen, setzte sich Seitter ans Werk. Als nächstes lernte er den Gründer des Berliner Merve Verlags, Peter Gente, beim Hanser in München kennen und bald saßen die beiden gemeinsam im Wohnzimmer von Foucault, der sich bei Diskussionen über die RAF vor seinen Gästen am Teppich entspannte.

Auf solch kommunikative Weise entstand in den 1970er-Jahren ein natürliches Biotop der Gegenkultur: eine von Begeisterung für schwierige Texte getragene Lektürebewegung, ein »Rezeptionszusammenhang«, wie das Philipp Felsch in seiner gerade erschienen Rückschau auf den langen Sommer der Theorie nennt.

»Felsch hat da mit viel Enthusiasmus eine kluge Milieustudie vorgelegt«, lobt Seitter. Er könne gut verstehen, dass sich die heutige Intellektuellengeneration für den damaligen Theorie-Import aus Frankreich interessiert.

Auch das intellektuelle Milieu braucht schließlich eine Geschichte, will es als Minderheit anerkannt werden.

© Wolfgang Koch 2015

Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990,  326 Seiten, München 2015, ISBN 978-3-406-66853-1, EUR 24,95

Foto: Peter Kubelka

 

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Walter Seitter – Das symbolische Kapital der Merve-Kultur (2/2)

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Philipp Felsch zeichnet anhand der Produktionen des Merve Verlags eine stimmige  Biographie der deutschsprachigen Postachtundsechziger. Beginnend mit Adorno und den Autoren der Kritischen Theorie führte die lange Sommerreise über Jakob Taubes und Louis Althusser, Krahl, Negt und Kluge hin zu den Galliern Lyotard, Barthes, Certeau, Foucault, Baudrillard, Kojéve, Virilo, und von diesen hermetisch sprechenden Denkern an der Seine – mit Hilfe von Seitter, Dietmar Kamper und Harald Szeemann – weiter zur Lektüre von lange verpönten und randständigen deutschen Autoren wie Schmitt,  Jünger und auch Luhmann.

Das wird natürlich jeder Teilnehmer an dieser Leseveranstaltung  zwischen 1960-90 ein wenig anders erlebt haben. Bei mir zum Beispiel rangierte Walter Benjamin stets höher als Adorno, auf Jünger bin nicht über Virilo, sondern durch LSD-Experimente gestoßen, das erste Lob auf Konsums und Passivität hörte ich nicht von Lyotard, sondern von Baudrillard in der verblichenen Wagenbach-Zeitschrift Freibeuter, und auf Luhmann habe ich immer tatkräftig verzichtet.

Solche individuellen Abweichungen von der kollektiven Lektüre ändern im Rückblick aber nichts an der großen historischen Bewegung des schwierigen Denkens, am besonderen Move in der Choreographie unserer »Vulkantänze«. Erst überwandten wir taschenbuchsüchtigen Protestleser die marxistischen und psychoanalytischen Orthodoxien durch die Entfaltung der Diskursanalyse, dann begeisterten wir uns für die Kunsttheorie und schwärmten mit unserem neuen Wissen aus in Galerien, Seminare und besetzte Häuser, um auf der jeweils zeitrichtigen Stufe Distinktion zu üben.

Felsch schreibt Seitter gleich zweimal eine zentrale Rolle im »Hyperintellektualismus« der Merve-Kultur zu. Gemeinsam mit einem anderen Nicht-Deutschen, dem Schweizer Ausstellungsmacher Szeemann, habe er ganz wesentlich zum Material Turn der Verlagsproduktion beigetragen. Damit ist der Anfangs dessen gemeint, was uns heute als Powerpoint-Präsentation an den Kulturwissenschaften nervt.

Diese, vielleicht besser als Iconic Turn beschriebene Hinwendung zu einem kaleidoskopischen Denken, unter Einsatz multimedialer Mittel, habe geschehen können, so Felsch, weil Seitter die illustrationsfreudigen Seiten der französischen Theoriezeitschrift Traverses bewundert habe.

»Nein, nein«, sagt Seitter, »für die Bildwelten habe ich mich schon viel früher interessiert. Für diese Obsession musste ich nicht erst einen Umweg über Paris nehmen. Schon meine Habitilationsschrift bewegte sich auf dem Terrain der Heraldik«.

Wenn Seitter heute, mehr als drei Dekaden später, die Demonstrationstilistik der Femen analysiert, wie er das aktuell in der Zeitschrift Tumult tut, so kategorisiert er die zweifärbigen Protestschriften auf den nackten Frauenkörpern, die durch Abklatsch von Farbe entstehen, immer noch reflexartig als »Somographien« und entdeckt in ihrer symmetrischen Zweifarbigkeit erneut einen »Heraldik-Effekt«.

Der zweite Paukenschlag von Seitter in der Merve-Kultur bestand laut Felsch darin, umstrittene deutsche Autoren, ja das Denken von deutschen Köpfen überhaupt, in Spontikreisen und auf Theoriekongreßen salonfähig gemacht zu haben.

Auch falsch! Er, Seitter, sagt er, habe den Umweg zu deutschen Philosophen über die Nietzsche-Lektüre der Franzosen gar nicht gebraucht, »ich habe mir Nietzsche selbst erlaubt und seine Tagebücher als Gegenbewegung zum Bramarbasieren des Akademismus genossen. Nietzsches stilles Beiseitestehen hat mir schon in der Jugend imponiert«.

Felsch zitiert Seitters brieflichen Kontakt zum betagten Carl Schmitt im April 1981, in dem er den Plettenberger auf Lacan aufmerksam gemacht hat. Von Schmitts vielzitierten Begriff des Politischen, mit dem sich in den 1980er-Jahren die Hegemonie der Sozialwissenschaften zurückdrängen ließ, hat Seitter sich später verabschiedet. Anders als Chantal Mouffe substituierte er dabei den Feind nicht einfach durch den Gegner.

Was wäre nun also das Politische, diese politischen Dimension des Sozialen, im Unterschied zur Politik? Schmitts berühmte Definition über den Anatagonismus von Freund/Feind, erläutert Seitter, enthalte ein Oder, und er zerdehne dieses Oder so weit wie nur möglich, er entschärfe die Polarität der Unterscheidung mit dem Begriff der Diplomatie. »Ich plädiere für langsame Entscheidungen, für eine Vergrößerung des Zwischenraums zwischen Freund und Feind, damit der Gegner als die dritte Gestalt zwischen dem unnachgiebig verfeindeten Paar Platz finden kann«.

Denkarbeit, erinnert Seitter, habe auch immer etwas mit der »Lust an Absetzung« zu tun. Absetzung der Kritische Theorie vom Marxismus, Absetzung der Diskursanalyse von der Kritischen Theorie, usw. – Distanz ist eine wesentliche Voraussetzung für den freien Blick. Und die katastrophale Parteinahme Foucaults für die iranische Revolution sei eben auch dem Spiel mit einer Rivalität geschuldet gewesen, das Foucault und Sartre miteinander gespielt hätten.

Zwei notwendige Schwächen bemängelt Seitter an Felschs verdienstvoller Arbeit. Die beiden großen theoretischen und nachhaltig wirksamen Leistungen der französischen Philosophie würden in der Milieustudie unterbelichtet bleiben.

Das sei zum Ersten die »Hinwendung des philosophischen Fragens zu den historischen Fakten«, eine Bewegung die man heute bagatellisierend einen Historical Turn nennen könnte. Seitter meint das damals erwachte Geschichtsbewusstsein der Philosophie, eine Archivlust der Forscher, ja geradezu eine Geschichtsversessenheit, trotz der erkenntnistheoretischen Absage an das Subjekt und den dialektischen Geschichtsprozess.

Zum Zweiten unterbewerte Felschs Mileustudie »das Starkmachen der Wünsche«, die Analyse der Bildwelten der Wunschökonomie, jenen Punkt, an dem das Geheimnis des Unbewussten zur Form erhoben wird, eben zu einem unvermeidlichen Abenteuer. Seitter denkt hier an die Diskursvervielfachung bis hin zur rhizomatischen Unterwanderung des diskursiven Denkens mit Poesie.

Der Kalauer von der kleinsten Weltstadt ist schließlich nicht vom Himmel gefallen.

© Wolfgang Koch 2015

Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990,  326 Seiten, München 2015, ISBN 978-3-406-66853-1, EUR 24,95

Foto: Peter Kubelka

 

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Tjark Kunstreich – Der Homosexuelle als Aufklärer (1/3)

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Falls Sie nicht zu denen gehören, die zum ständigen Faktencheck auf ihrem Samtphone herumfummeln, könnte Sie auch das interessieren:

Der deutsche Autor Tjark Kunstreich, 48, legt uns einen schmalen Debattenband mit sieben Texten vor, die das Unbehagen engagierter Menschen in (und keinesfalls an) der Homosexuellenbewegung thematisieren.

Kunstreich, der seit 2010 in Wien lebt, trägt in dem Buch unter anderem die durchaus bedenkenswerte These vor, das Genderdiktat habe der homosexuellen Emanzipation einen regelrechten Bärendienst erwiesen.

Um diese Urteil zu begründen, geht der Autor allerdings nicht in leicht nachvollziehbaren Schritten vor, der rote Faden schlängelt sich vielfach verknotet durch die gebündelten Zeitschriftenaufsätze und gedruckte Redebeiträge, so dass der Leser/ die Leserin die Mosaiksteine erst mühsam zusammensetzen muss.

Homosexualität versteht der Autor als pars pro toto einer sexuellen Abweichung. Der schwullesbische Kampf um rechtsstaatlichen Schutz und gesellschaftliche Akzeptanz schließt in dieser Definition sämtliche devianten Formen der Sexualität mit ein – was umgehend zwei Bedenken auf den Plan rufen muss.

Einerseits wird ja gerade dieser polarisierende Ansatz, der andere Minderheiten stillschweigend in die Gay-Community miteingemeindet, von Vertretern der Queer-Theorie angezweifelt. Andererseits zieht der Autor keine erkennbare Trennlinie vom homosexuellen Verhalten zu pädokriminellen Aktivitäten, sondern behandelt die »Knabenliebe«, als wäre sie bloß ein Kuriosum der Antike.

Trotz dieser generellen Schieflage des Buches kommt die intellektuelle Arbeit darin doch ordentlich in Fahrt. Kunstreich vertritt nachdrücklich die Ansicht, dass individuelles gleichgeschlechtlichen Begehren von der Homoerotik des Männerbundes analytisch streng unterschieden werden muss. Diese beiden Felder stehen in einer rätselhaften und aufklärungswürdigen Beziehung zueinander.

Hier, in einem Gegensatz von Individuum und Kollektiv, müsse nach den Ursachen von so verschiedenen Dingen wie politischem Totalitarismus, klösterlicher Religiösität und Fußball gesucht werden. »Die Homosozialität der Mannschaft«, sagt Kunstreich über den beliebtesten Ballsport, »die lebt davon, dass das erotische Interesse, welches sie zusammenhält, nicht sexuell manifest wird«.

Im dritten Kapitel wendet sich der Verfasser der politische Selbstdemontage einer der bedeutendsten Philosophenpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zu: Michel Foucault. Ende der 1970er-Jahre stand dieser, eine ganze Lesegeneration in Europa und in den USA prägende Intellektuelle auf der Höhe seiner Schaffenskraft und wandte sich – für die Zeitgenossen völlig überraschend – in einem halben Dutzend journalistischen Artikel dem Sturz des persischen Schahs und der damals entbrannten iranischen Revolution zu.

Kunstreich zeichnet informiert nach, wie der lebenslang unerbittliche Machtanalytiker Foucault, der die politische Theorie und den Befreiungsdiskurs mit den Begriffen Bio- und Disziplinierungsmacht durcheinander gewirbelt hatte, in nur wenigen Wochen »der Faszination durchs Totalitäre« erlag.

Foucaults Bekenntnis zum Antikapitalismus und seine öffentliche Rivalität mit Sartre um mediale Aufmerksamkeit mögen zum Sündenfall beigetragen haben. Letztlich aber blieb es immer ein Rätsel, warum dieser kritische Mann, in der Atmosphäre einer endlosen gallischen Geschwätzigkeit, im Islamismus der iranischen Linken ein weltpolitisches Hoffnungslicht sehen konnte.

Kunstreich geht es um Foucaults Denken und um seine Homosexualität, und er bemüht sich zugleich faschismustheoretisch um den Islamismus. Nach mehr als dreissig Jahren liest er aus der katastrophalen Parteinahme für Khomeini und die Scharia den persönlichen Wunsch des Denkers Foucault nach »Wärme der Gemeinschaft« und nach »völkischem Kitsch« heraus. Der französische Philosoph sprach wörtlich von einem »Versuch, dem politischen Leben wieder eine spirituelle Dimension zu verleihen«.

»Hätte Foucault Filme gedreht«, bilanziert unser Autor, »er hätte die Riefenstahl der islamischen Revolution und des Ayatollah Khomeini werden können«. Die Begeisterung des prominenten bekennenden homosexuellen Franzosen für das Virile, lautet Kunstreichs Verdikt, habe letztendlich der Angleichung des Homosexuellen an das homophobe Ideal gedient.

Damit kehrt der Text zurück zur anfänglichen Behauptung, zwischen individuellem gleichgeschlechtlichen Begehren und der Homoerotik des Männerbunds liege eine noch unentdeckte kulturelle Matrix begraben. Der auf Geschlechtertrennung setzende Islam soll sich im Fall Foucaults quasi von selbst angeboten haben für ein Begehren, das die Begeisterung für das Maskuline und das Vitale mit Zucht und Ordnung paart.

Kunstreich meint hier, in Foucaults intellektueller Selbstbeschädigung, die Bewegung einer doppelte Sehnsucht zu erkennen: nämlich, psychoanalytisch gesprochen, die Sehnsucht  »nach dem Ursprung im Mutterleib«, und, polit-philosophisch gesprochen, die Sehnsucht nach dem gütigen »Souverän«, welche zusammen das Ferment des Nazismus bilden würden.

Eine weitere Beweisführung bleibt aus, was schade ist, aber ja nicht endgültig sein muss. Foucaults denkerische Anstregungen und seine öffentlichen Interventionen werden immer noch viel zu selten aus dem Biographischen heraus interpretiert. Hierin liegt ein Verdienst des Aufsatzes.

Allein der gütige, den Einflüsterungen von Philosophen zugängliche Souverän war schon das platonische Ideal und das Ideal vieler nachfolgender Denkschulen gewesen, bevor es in die genuine Ideologie des 20. Jahrhunderts, den Faschismus, einging.

Wo sich die theoretische Bemühung um die Homosexuellenbewegung auf solche vagen Spekulationen einlässt, wo sie aus einer bloßen Ähnlichkeit historischer Phänomene so weitreichende Schlüsse zieht wie bei Kunstreich, ist sie mir von der Polemik noch nicht weit genug entfernt.

© Wolfgang Koch 2015

Tjark Kunstreich: Dialektik der Abweichung. Über das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation, 133 Seiten, konkret Texte 67, Hamburg 2015, ISBN 978-3-930786-78-7, EUR 15,-

Foto: T. Kunstreich

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Michel Foucault – Der Mensch ist nicht mit sich zeitgenössisch (1/4)

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Letzte Woche versuchte das außeruniversitäre Wiener Institut für Wissenschaft und Kunst (iwk) die Aktualität des französischen Philosophen und Wissenshistoriker unter Beweis zu stellen. In nicht weniger als 16 Vorträgen beschäftigen sich Forscher, Theoretiker und Übersetzer aus vier Unionsstaaten mit dem Narratorium der »Machtanalyse nach Foucault«.

Vierzig Jahre nach der Monumentalstudie »Surveiller et punir/ Überwachen und Strafen« spürte die Tagung der Frage nach, welche neuen Machtformen in der Zwischenzeit entstanden sind und mit welchen begrifflichen Mitteln sie erschlossen werden könnten.

Unter den sieben Vortragenden, die ich gehört habe, stachen der Frankfurter Kulturwissenschafter Andreas Reckwitz und der Wiener Philosoph Walter Seitter durch besondere Thesenfreudigkeit hervor. – Man solle nicht vorgeben zu philosophieren, sondern wirklich philosophieren, hat schließlich schon Epikur von sich selbst verlangt.

Die meisten Auftritte glichen freilich eher den Monologen byzantinistischer Gelehrter, die nur sehr ungern die Behaglichkeit ihrer Studierzimmer verlassen, und wenn sie es doch einmal tun, dann nur um sich mit gleichgesinnten Bewohnern des Elfenbeinturms über Fußnoten und Übersetzungsfragen zum Werk auszutauschen.

Über weite Strecken glich das wissenschaftliche Palaver eher den Exerzitien von Seminarmarxisten; man begnügte sich mit dem Zurufen von Vorlesungstiteln und erstarrte lächelnd vor der eigenen Kompliziertheit. Der spürbare Ekel der Intellektuellen vor der Banalität gewann regelmäßig die Oberhand und die Diskussion erlangte nur bei der Behandlung von Sozialfiguren einigermaßen Lebendigkeit.

Rubert Gaderer lehrt in Bochum und gastierte in Wien mit seiner Querulantologie, einem bis heute nicht abgeschlossenen Kapitel der Psychiatriegeschichte. Seit dem 18. Jahrhundert verstoßen sogenannte Briefsteller, Kohlhaase, Prozeßhanseln oder Quengler gegen den mimetischen Schreibgehorsam und versenden eine Vielzahl von schriftlichen Eingaben an die Behörden.

Für einen Foucaultianer ist dieses »Patienten-Querulantentum« natürlich ein Produkt der Institutionen. Ursprünglich drehte sich dabei alles um den graphologischen Befund der Normalität einer Handschrift. Später, vor allem bei dem für die Geschichte der Psychoanalyse so wichtigen Fall des Daniel Paul Schreber, ließ sich die Rechtsquerulatorik kaum mehr von der Rechthaberei, wie wir sie heute aus Netzforen kennen, unterscheiden.

Für Gaderer, der keine verlässlichen Zahlen zur »juristischen Wissensfigur« des Querulanten angeben konnte, ist das Querulantentum »ein mediales Problem der Kommunikation«. Die Störmanöver der Machtdiskurse erlauben es, das Wahrsprechen zu untersuchen. Ob es sich dabei um polemische Akte der Gesellschaftskritik handelt oder um eine »Kritik-Überaktivität«, das lasse sich nicht generell beantworten. Entscheidend an der Geschichte der gerichtlichen Eingaben sei die Verschiebung des Stigmas zum Wissen hin.

Der Schweizer Robert Nigro wollte Foucaults philosophische Geste in der Ablehnung der Universalien erkannt haben. Der Franzose habe die Nichtnotwendigkeit jeder Form von Macht postuliert, im Unterschied zum politischen Anarchismus aber keine Gesellschaft ohne Macht in Aussicht gestellt.

Foucault habe auch nie nach dem guten Leben gesucht, wie das heute in jedem linken Parteiprogramm der Fall ist. Seine Arbeit sei eine des unentwegten Problematisierens gewesen.

Foucault habe gefragt, wie sich Individuen selbst als Subjekte konstituieren, welche Techniken des Selbstverhältnisses sie dafür entwickeln. Von Nietzsche inspiriert habe er sich diesem Wahrheitsspiel, aus dem wir als Subjekte hervorgehen, zugewandt, habe dabei aber Kants Erkenntniskritik und die Idee einer Wahrheitssuche des freien und mündigen Bürgers verworfen. Das entscheidende Analyseinstrument von Foucault sei das »Wahrheitsregime«, also die verborgene Verbindung von Wissen mit Macht.

Insofern habe Foucault auch die Philosophie als ein Denkgeschäft hinterfragt, das in der Funktion bestehe, die Ausübung von Unvernunft zu begrenzen und die Vernunft als eine endlose Aufeinanderfolge von Rationalitäten darzustellen. Foucault habe das Spiel von Setzung und Dekonstruktion der Setzung unterlaufen. Darin liege seine enorme Leistung.

Subjektivität konstituiert sich durch das Verhältnis zur Wahrnehmung von Wahrheit. Foucault fragte nach der Wahrheit als einer »Pflicht-Zwang-Verbindung«, und das heißt als Politik. Die Diskursanalyse  insistierte auf diese eine Frage: »Was ist wahr und wovor beuge ich mich?«

Wovor sich der »Wille zum Wissen« in den Wissenschaften beugt, das lässt sich ja einigermaßen feststellen: vor Wahrheitsritualen, die das Wahre im Individuum produzieren.

Dasselbe gilt für das gesamte soziale Feld. Um als Disziplinarmacht wirksam zu sein, müsse die diskursive Unterwerfung ständig wiederholt werden. Dabei könne diese »ursprüngliche Akkumulation von Menschen« auf einen sehr einfachen Mechanismus zurückgreifen: sie findet täglich durch die Beschlagnahme ihrer Zeit statt.

Auch Marc Rölli, Professor für Designtheorie in Zürich und für Philosophie in Istanbul, wandte sich Foucaults Kritik der anthropologischen Vernunft zu. Trotz seines sympathischen Vortragsstils blieb die Hälfte des Gesagtem dem Laien leider unverständlich.

Foucaults Großthese vom Entstehen und Verschwinden des Menschen zeigt für Rölli eine Instabilität der Moderne auf. Als endliche Wesen müssten wir uns immer schon auf positive Inhalte beziehen. Dass der Mensch mit sich nicht zeitgenössisch sei, habe Foucault in Hinblick auf die Sprache geäußert. Es gäbe nämlich immer schon eine Vorherigkeit des Seins.

Nach meiner Lektüreerinnerung rückt Foucault mit dem Wort eher vom Gedanken an eine Wiederkehr zum Ursprung bei Hölderlin, Nietzsche und Heidegger ab – aber sei’s drum. Rölli sieht diese »endliche Endlichkeit« des Subjekts als charakteristisch an für die transzendentale Dialektik in der Ordnung der Dinge.

In seinem zweiten Hauptwerk, Überwachen und Strafen, habe Foucault dann den anthropologischen Diskurs aufgedeckt. Jedes juristische Urteil enthalte ja Normalitätsabschätzungen, die Strafe solle den Körper des Delinquenten treffen und nicht die Tat. Auf diese Weise würde die Seele zum eigentlichen Gegenstand der Anthropologie.

Die Aufkärerparole von der Menschlichkeit weise im Diskurs der Reformen die Marter zurück, aber eben nicht nur sie, sondern auch die Gefahren von Tumult und Revolte. Im Namen der Menschlichkeit, so Rölli, könne jede ungeordnete Macht korrigiert werden.

Das hätte uns jetzt natürlich brennend im Zusammenhang mit der Asylforderung für möglichst viele Migranten interessiert. Verstärkt denn die Moral, die in allen Unionsländern auf die Rettung und Aufnahme von illegalen Flüchtlingen drängt, nicht in einem medialen Pizza-Effekt die Flucht aus den Herkunftsgebieten? Und damit wiederum sich selbst, als hysterisches Anathema?

Und, zweite Frage, ist denn die hochtrabende Moral von der »menschlichen Großgesinntheit« der Politaktivisten überhaupt etwas anderes als die Kehrseite der kooperativen Disziplinierung der Flüchtlingsströme durch Schleusermafia und Militär?

Eine positive Antwort darauf ließe freilich die pathetische Berliner Sturmaktion »Die Toten kommen« in einem gar nicht mehr so günstigen Licht erscheinen.

Marc Rölli betonte in Wien, dass die Durchsetzungskraft der Macht stets davon abhänge, die eigenen Mechanismen zu verbergen. Über den allgemeinen Imperativ, die Wahrheit sagen, hinaus fabriziere die Macht ein Geheimnis, das die Leute lähmt, indem sie es lösen wollen.

In der Diskussion stritt man dann darüber, wer Foucault aus dem »anthropologischen Schlummer« geweckt haben könnte. Heidegger? Nietzsche?

Der verdienstvolle Foucault-Übersetzer Walter Seitter sah die rhetorische Vermischung von zwei Begriffen – menschlich im Sinn des Gattungswesens und menschlich im Sinn von menschenfreundlich – als die Ursache an. Die Philosophen der Antike, so Seitter, hätten das noch strikt auseinandergehalten. Erst die Rede der Moderne habe Essenz und Eigenschaft des Zweibeiners durcheinandergewirbelt – und im Gegenzug Foucault skeptisch gegenüber der Anthropologie und dem Begriff des Menschen gemacht.

© Wolfgang Koch 2015

Foto: Volksgarten Pavillon

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Michel Foucault – Der Mensch ist nicht mit sich zeitgenössisch (2/4)

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Wahrheit ist nach Foucault nicht einfach im Austausch der Kommunikation zu vermuten. Es lag diesem diskurskritischen französischen Philosophen darum einiges daran, Fachgrenzen im Denkgeschäft zu ignorieren und sich an der Fragmentierung der Wissensformen zu beteiligen.

Wenn jede Form eine gar nicht anders mögliche Verbindung von Kräfteverhältnissen ist, wie er dachte, kann die Geschichte wohl kein Bericht über soziale und ökonomische Wechselfälle sein und man muss auf die Konstruktion großer Synthesen verzichten.

Dieser Ansatz hat unter Historikern und Philosophen, Kulturwissenschaftern und Kunsttheoretikern bis heute seine Gültigkeit behalten. Ihm verdanken einige sogenannte Orchideenfächer an den Universitäten, dass sie im Statuswettbewerb der Exzellenzen überhaupt noch existieren. Es sind diese Geistes- und Kulturwissenschafter, die sich heute am stärksten bemühen, evolutionistisch zu denken und dabei die Verbindungen ihrer Untersuchungen trotzdem nicht mit ideologischen und gesellschaftlichen Auslegungen zu umgeben.

Der iwk-Forscher Gerhard Unterthurner versuchte das Denken Foucaults dem Tagungsteilnehmerinnen in Wien über das Begriffspaar Inklusion/Exklusion zu erschließen. Noch in den 1960er-Jahren sei Foucault – beeinflußt von George Batailles sakralsoziologischem Transgressionsdenken – begeistert gewesen von einem emphatischen Außen.

Mit dem Studium der juridischen Machtkonzeption sei Foucaults Traum von der Entgrenzung aber allmählich verflogen. In den 1970er-Jahren verstand er unter Exklusion ausschließlich eine negative Macht und differenzierte die Mechanismen der Disziplinierung nach drei griffigen Modellen: Lepra, Pest und Pocken.

Das mittelalterliche Modell Lepra, so Unterthurner, zog klare räumliche Grenzen, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Das davon abgesetzte und jüngere Modell der Pest nahm vielfältige Trennungen vor und wies im 19. Jahrhundert jedem Betroffenen einen ganz bestimmten Platz zu, um Masseneffekte von Seuchen zu vermeiden.

Das historische Resultat aus diesen beiden, einander überschneidenden Tendenzen, so Unterthurner, sei jener »Normalismus«, von dem der deutsche Literaturwissenschafter Jürgen Link gezeigt habe, wie er im 20. Jahrhundert immer flexibler geworden sei und nur mehr auf graduelle Unterscheidungen der Individuen gesetzt habe.

Als Drittes brachte Unterthurner das Modell Pocken ins Spiel, das nach Foucault die Menschen im Rahmen der Biomacht wieder gesamtheitlich erfasst habe. Dabei würden statistische Wahrscheinlichkeiten festgestellt, um die Gesunden gegen Ansteckungsherde im Inneren immunisiert.

In diesem Zusammenhang erzeugt jede sozialstatistische Definition von Risikogruppen neue »Lebensverbesserungs-Manien«. Jeder Mensch wird nur mehr als Ressource für die Lebensverlängerung eines andern gesehen.

Walter Seitter stellte bei der Tagung sein außergewöhnliches Format zur Schau, indem er es dem französischen Denker gleich tat und unter dem Titel »Menschenformen« zwei weit auseinander liegende geistesgeschichtliche Phänomene so geschickt aufeinander bezog, dass daraus Funken in alle Richtungen sprühten.

Ausgehend von Foucaults Begriff der Infamie, der im Gegensatz zum medizinischen Begriff des Anormalen aus der Sphäre des Rechts stammt, habe Foucault gefragt: »Wie geht ein Staat mit störenden Elementen um?«

Mit infamen Menschen seien die kleinen Existenzen gemeint gewesen, die von der eigenen Familie oder der näheren Umgebung der Polizei gemeldet worden sind, mit den flehentlichen Bitten, die »unerträglichen Personen« mögen aus dem Verkehr gezogen werden, um fortan für immer ungesagt und ungesehen zu bleiben. Königliche Siegelbriefe waren im 18. Jahrhundert dazu da, die betroffenen Individuen in sogenannten Hospizen oder Spitälern festzusetzen.

In Wien sei im tintenklecksenden Jahrhundert der merkantilistische Ökonom Johann Joachim Becher [1635-82] als Berater des Kaisers tätig gewesen. Becher gründete da ein Werkhaus, dessen hochtechnologische Ambitionen sich direkt mit der thematisierten Menschenbehandlung berühren.

Um eine gedeihliche Wirtschaftsentwicklung der Monarchie zu sichern, verlangte Becher, dass man sich verstärkt der »Aufferziehung der Jugend« widme, und das hieß im Jargon der Aufklärung: Kinder aus dem Stand der Bestialität heben und sie – weil ihnen wie dem »Weiber-Volck« angeblichder Verstand fehlte – mit pädagogischen Mitteln zu Menschen machen. Er bedürfe einer »Anthropogogia«, so Becher, die denselben Gesetzen wie das Goldmachen unterliegt.

Der merkantile Alchemist Becher wollte nämlich das Edelmetall aus Donausand herstellen, indem er der darin enthaltenen wertvollen Substanz zunächst allerlei geheimnisvollen Stoffe beimischte. Derselben »Transsubstantions-Illusion« unterlag Becher auch bei der Kindererziehung.

Das »Menschenformen«, diese Behandlung von als wertlos erachteter Kindheit zum mündigen Menschen, stand auch bald darauf bei der Geburtstunde der Psychiatrie Pate, nunmehr in Form der Masturbationsproblematik. Nervenärzte, Psychiater und Psychologen– sie alle sahen in der Kindheit lediglich einen generellen Schwächezustand. Bereitwillig übernahm diese akademische Elite eine Richterrolle, um mit Hilfe von rassistischen Vererbungs- und Degenerationstheorien den Gesellschaftskörper zu traktieren.

Von diesem scharfen Befund sprang Seitter direkt zu Otto Weininger [1880-1903], einem Enfant terrible des Wiener Fin de Siècle, das in seiner groß angelegten Charakterologie zum ultimativen Schluss kam, dass es dem Geschlecht der Frau wie dem jüdischen Volk gleichermaßen an wesentlichen Menschheitsqualitäten mangle.

Weininger verwandelte den seelischen Konflikt von Ich und Über-Ich in einen Kampf zwischen Mann und Weib; das heisst, da jedes menschliche Wesen bisexuelle ist, in ein inneres Ringen zwischen männlicher und weiblicher Substanz. Er war wie besessen von diesem Gedanken. »Die disjunktiv geteilte Sexualität übernimmt die Regie, die Logistik, die Zuteilung der Wesenseinheit«, so Seitter.

Weininger verband mit seinem Wahn übrigens die Forderung nach einer verstärkten Individualisierung der Erziehung, die die Kinder nicht allzu rasch in Knaben und Mädchen trennen sollte. Während der Jude zum Menschen werden konnte, indem er zum Christ konvertierte, blieb der »seelenlosen« Frau der Aufstieg zum Vollmenschen schicksalhaft tragisch versperrt.

Am Unglück der Frau, an ihrer »ontologischen Verlogenheit«, war nach Weininger letztendlich der Mann schuld. Der Antifeminismus dieses Brachialdenkers, argumentierte Seitter, sei letzthin ein Antimaskulinismus gewesen; Adolf Hitler habe Weiningers Nähe zum jüdischen Antisemitismus richtig erkannt und ihn wohl deshalb »den bravsten Juden« genannt.

Damit stellte Seitter gleich zwei Dinge in dem Raum der Foucault-Tagung: Erstens die »Menschenbehandlung« bei Becher und Weininger habe so etwas wie einen unschmeichelhaften philosophischen Genius loci von Wien formuliert; und zweitens Weinigers Suizid nach der Veröffentlichung seiner Streitschrift sei tatsächlich die logische Konsequenz seiner »Theorie-Gewalttat« gewesen.

© Wolfgang Koch 2015

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Tjark Kunstreich – Der Homosexuelle als Aufklärer (2/3)

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In den Jahren des Millenniums erfuhr die Geschlechterfrage eine seit Sigmund Freud und der Geburt der Psychoanalyse nicht mehr dagewesene Aufmerksamkeit. Das mag teils der explosionsartigen Ausbreitung von Pornos in der Digitalen Revolution geschuldet sein, sicher hängt es aber mit dem Widerstand gegen die globalisierten freiheitlichen Werte des Westens zusammen.

Seit vielen Jahren wächst ja die Homophobie in rückständigen Weltregionen dramatisch an. In einer Vielzahl von afrikanischen Staaten steht die homosexuelle Orientierung unter akuter Strafdrohung, und nur 15 Staaten weltweit erkennen sie als Verfolgungsgrund im Asylverfahren an.

Der Homosexuelle wird heute im katholischen Südamerika vielfach seiner Würde beraubt; in buddhistischen Klöstern ist er ein noch viel größeres Tabu als die Depressionserkrankungen unter den Mönchen. Zugleich wächst das innere Afrika in den Wohlstandsgesellschaften.

Warum fürchten sich unsere gut ausgebildeten und perfekt vernetzten Jugendlichen heute vor nichts mehr als vor Ausgrenzung aufgrund von Homosexualität? – Eine möglich Antwort könnte sein: Weil das allgemeine mediale und pädagogische Toleranz-Geschwurbel in Wahrheit sämtliche Formen von sozialer und ethnischer Abweichung tabuisiert.

Tjark Kunstreich formuliert die entsprechende These, indem er einen Blick in die Vergangenheit wirft:

Schwuler Stil ist seit dem 19. Jahrhundert geschmacksbildend in der Globalkultur. Pop, Mode und Unterhaltung bedienen sich subkultureller Erkennungszeichen sowie der klassischen Homomythen in den Figuren von Bauarbeiter, Cowboy und Indianer, Ledermann, Matrose, Polizist und Soldat.

Die persönlich Betroffenen Schwulen und Lesben mussten dennoch lange ihre ganze Schlauheit aufbieten, um in der Mehrheitsgesellschaft nicht unterzugehen. Kunstreich unterscheidet sieben verschiedene Lebenshaltungen, mit der eigenen Homosexualität zu verfahren, nach bekannten literarischen Protagonisten:

Der britische Schriftsteller Oskar Wilde distanzierte sich vom Opferstatus und hoffte auf Abschaffung der staatlichen Unterdrückung durch gesellschaftliche Anerkennung.

Der italienische Dichter und Mussolini-Rivale Gabriele D’Annunzio sublimierte die Gleichgeschlechtlichkeit und brachte sie als Perversion auf einen künstlerischen Begriff.

Der Franzose André Gide befürwortete Pädophile als Dekadenz des bürgerlichen Zeitalters.

Sein Landmann und Kollege Marcel Proust kultivierte Homosexualität als Flair des Besonderen, vorbehalten einer sorgenfreien Bohemé.

Der deutsche Schriftsteller Klaus Mann verteidigte sie mit den Prinzipien der Aufklärung; er suchte, aber er verfehlte dabei den Anschluss an eine Gemeinschaft ohne Mimikry.

Der italienische Regisseur und Schriftsteller Pier Paolo Pasolini glorifizierte sein in Heimlichkeit erlebtes Begehren.

Das Enfant terrible der französischen Nachkriegsliteratur, Jean Genet, verriet die Gemeinschaft, verweigerte Individualität, liebte das Reservat und ließ Nazis, Mörder, Schwule, Spitzel, Transvestiten, Diebe, Transvestiten, Arbeiter und Matrosen in die Atmosphäre von falscher Befreiung nach 1945 platzen. In seinen Texten schmettert der Zuhälter nach dem Orgasmus die Marseillaise.

Es gäbe weitere große Namen aufzuzählen, die nach einem individuellen Ausweg aus der gesellschaftlichen Stigmisierung suchten. Hans Henny Jahn ist ja nicht einfach ein umgekehrter D’Annunzio; Mishima ist kein japanischer Proust und Hubert Fichte keine deutsche Variation von Genet.

Aber auch bei Kunstreichs Big Seven wird bereits klar, dass der Bruch im Selbstverständnis von Homosexuellen nicht hätte größer ausfallen konnte, als zwischen diesen inzwischen klassisch gewordenen Künstlernaturen auf der einen Seite und den Aktivisten der Homosexuellenpolitik im Nachsommer der Studentenrevolte auf der anderen.

Konkret setzt Kunstreich den Beginn der kollektiven homosexuellen Emanzipation mit den Krawallen von 1969 in der New Yorker Christopher Street an. Auf brutalen Polizeirazzien in Schwulenkneipen folgten damals nachhaltige Protestmärsche – nachhaltig, weil sich die Protestierenden unter dem Banner der bürgerlichen Gleichheit auf der Straße zusammenfanden. Was damals der homophoben Mehrheit selbstbewusst entgegentrat und diese mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontierte, ist nach diesem Autor erst in den 1980er-Jahren an Aids zerbrochen.

Bis zum ersten Höhenflug der Homosexuellenpolitik von 1969-87 haben praktisch alle Ideologien, vom Sozialismus bis zum Faschismus, den Homosexuellen jenes Grundrecht verweigert, dass weder Juden noch Schwarzen je abgesprochen wurde: das gleiche Recht auf Liebe und Zärtlichkeit.

Ja, aber konfrontierte die Schwulenbewegung die Öffentlichkeit nicht meistens mit ziellosem Tuntengeschrei? Waren die Regenbogenparaden je mehr als alarmistische Partys, fotogene Karnevals für Schaulustige und ein Einweihungsritual in unanständige Ausdrücke?

Nein, meint Kunstreich, das waren einmal ernstzunehmende politische Ereignisse. Man flüsterte einander nicht mehr nachts ins Ohr. Man brüllte es durch Lautsprecher auf die Gasse.

Aids hat aus der scharfen Gesellschaftskritik ein verträumtes Geheul gemacht. Nach Kunstreich ist die sogenannte Queer-Koalition 1987 aus Act Up hervorgegangen, als es in den USA immer schwieriger wurde, Gräber für verstorbene Aids-Opfer finden. Damals hätten sich alle sexuellen Minderheiten zusammengeschlossen, um die gesellschaftliche Ignoranz gegenüber der Krankheit zu durchbrechen.

Das neue Patchwork der Abweichungen (LGBTQ, LGBTI) habe sich dann schrittweise des Körpers zugunsten des Diskurses entledigt. Aus der Selbstaufwertung des Anderen in alle seinen sexuellen Spielformen sei eine Abwertung männlicher und weiblicher Sexualität erwachsen, aus der Kritik der Heteronorm sei das Ideal einer Transgeschlechtlichkeit ohne biologisches Geschlecht geworden. »Genau das nutze Judith Butler, indem sie vom körperlichen Begehren absah und das biologische Geschlecht zu einer diskusiven Konstruktion erklärte«.

Das Ergebnis dieser »Selbst-Entleibung« haben wir heute täglich auf Wiens Plakatwänden, in der TV-Werbung, als Eissorte oder als Weißwurst, vor uns, wenn der Musiker Tom Neuwirth verlangt, dass er in der öffentlichen Rolle einer Transe mit dem weiblichen Geschlecht angesprochen wird. Soviel »Respekt« sei man seiner Maske Conchita Wurst eben schuldig, erklärt der Künstler; und bis in die konservativen Kreise der ÖVP hinein geschieht das nach anfänglichem Zögern tatsächlich auch.

Respekt vor einer Kunstfigur? Hoheitsbezeugungen vor Comics? Unterwerfung vor Illusionen?

Das Queer-Denken ist unübersehbar in der Mitte der Gesellschaft angekommen, aber das jeweilige Sosein wird dabei nur anerkannt, solange es eben um sprachliche Verhältnisse und Zeichen geht. Über die Qualität von materiellen Lebenszusammenhängen sagt das Bemühen um politische Korrektheit überhaupt nichts aus.

Gender war nie ein Mittel, der Ungleichheit unter Menschen zu begegnen. Der Gender Gap verwies darauf, dass es jenseits von Frauen und Männern auch Personen gibt, die sich keinem der beiden Geschlechter eindeutig zuordnen können oder wollen. Mit dem Begriff wurde der Nachweis der Nicht-Natürlichkeit des Geschlechts erbracht. Das feministische Anliegen dabei: die darin involvierten Mechanismen der Hierarchisierung zu verstehen.

Butler kritisiert seit 1990 die einseitige Konzentration auf Schwulenrechte: diese würde andere Minderheiten benachteiligen und unsichtbar machen. Für Kunstreich besitzt Butlers theoretischer Ansatz weder einen Begriff von Schulenhass, noch auch einen von Antisemitismus. Allein schon die Sprache der Gender-Theorie setze bewusst auf Distinktion.

Die Queer-Community rekurriert quasi direkt, ohne den Umweg über die Geschlechterpaarung, auf die Abstammung als Urgrund der Gesellschaft. Sie behauptet in neuen Modellen des Zusammenlebens mit den naturhaften Erbe der Menschheit auf dieselbe familiäre Weise umgehen zu können wie die Heterosexuellen.

»Die Utopie ist heute Standard«, hat Franz Böckelmann in der neuen Ausgabe der Zeitschrift Tumult festgehalten. »Die Postulate der Toleranz und Weltoffenheit werden verabsolutiert, die Öffnung aller Grenzen direkt und indirekt als Königsweg empfohlen«.

Die Utopie der toleranten Gesellschaft sagt, dass es nur mit einer unvoreingenommenen Haltung gegenüber dem Anderen möglich ist, sich wirklich lebendig zu fühlen. Gender wäre demnach der endgültige Triumph eines Positivismus in gutmenschlicher Einfalt. Alles Übel scheint verhinderbar, wenn es nur genüge viele Menschen anpacken.

Statt auch die Schattenseiten der Sexualität zu benennen, komme die neue Ideologie nun als dekonstruktive Moral daher, die sich scheinbar jeder Wertung enthält. In Diversity-Verständnis ist einfach alles positiv im Sinn von nicht bewertbar. »Aberwertungen, Demütigungen und Diskriminierungen gibt es zwar, aber sie sind einem Diskurs geschuldet, der einfach durch einen anderen ersetzt wird«.

Das Gender-Konzept nivelliert die Unterschiede; durch die fehlende Anerkennung von Gruppendifferenzen wird ein konstruktiver Umgang damit unmöglich gemacht. Anstelle von Individuen, die Erfahrungen sammeln, anstelle von Gemeinschaften, die aus sexuellen Begehren entstehen, wird das Begehren selbst zur Identität. Der Abschied von der Hetero-Homo-Achse, so Kunstreich, leugnet gesellschaftliche Machtunterschiede, Verfolgung kann nicht mehr erkannt und nicht mehr kritisiert werden.

Kunstreich unterscheidet zwei Blöcke an devianten Sexualitäten: Erstens die Homo-, Bi-, Hetero- und Asexuellen, die sich über die Objektwahl definieren und zweitens Transsexuelle, Transidenten und Intersexen, die auf Geschlechteridentität bestehen. Diese beiden Lager können sich in der Queer-Nation nicht einigen, und die Queer-Theorie sorgt dafür, dass die zweite Gruppe als die eigentlich Unterdrückten wahrgenommen werden.

Da die Gruppe der Transsexuellen extrem klein an der Zahl ist, marginalisiert sich die Homosexuellenpolitik auf diese Weise selbst. »Die Subsumierung der Homosexualität unter das Genderdiktat hat der homosexuellen Emanzipation einen Bärendienst erwiesen, ebenso wie das Gendermainstreaming der Frauenemanzipation«.

Das Tragische am Queer-Geschehen sieht Kunstreich darin, dass die schwindelerregende Weltverbesserung des Genderns und der Homo-Ehe um eine bürgerliche Normalität streitet, die so gar nicht mehr existiert. Ein Drittel der Kinder wächst heute bereits mit Alleinerziehern und in Patchwork-Familien auf. Jede zweite Hetero-Ehe zerbricht; die durchschnittliche Verpartnerung in Deutschland dauert gerade mal 14 Jahre.

© Wolfgang Koch 2015

Tjark Kunstreich: Dialektik der Abweichung. Über das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation, 133 Seiten, konkret Texte 67, Hamburg 2015, ISBN 978-3-930786-78-7, EUR 15,-

Foto: T. Kunstreich

 

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Michel Foucault – Der Mensch ist nicht mit sich zeitgenössisch (3/4)

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Isabell Lorey ist Politikwissenschafterin und Mitherausgeberin des österreichischen Minibuchlabels transversal, das nach eigenem Bekunden »niemals zum Verlag werden will«. Sie lieferte bei der Wiener Foucault-Tagung im Juni 2015 einen zwar gut besuchten, aber doch enttäuschenden Vortrag zur Aktualität des französischen Denkers.

Lorey kam sich arg schlau dabei vor, Foucaults Revolutionsprosa der frühen 1970er-Jahre barrierefrei vorzutragen. Wahrscheinlich muss man ihr sogar dankbar sein dafür, da doch viele Leser heute den französischen Vordenker der Diskursanalyse als eine Art Meta-Geschichtsphilosophen auffassen und Foucaults pathetisches Geraune von der »Selbstermächtigung« und der »horizontalen Organisierung«, Foucaults Koketterien mit »revolutionären Praxen« und der »widerständigen Singularitäten« überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Isabell Lorey paraphrasierte tatsächlich Foucaults Singsang von einer »entschiedenen Kritik« und dem »Willen, nichtregiert zu werden«, als säße man zwischen zwei Nummern der Doors auf irgendeiner WG-Matratze. Foucault, war zu hören, habe die Idee einer Ganzheit des Gesellschaftlichen aufgegeben, es sollte nichts mehr geben, was Gesamtgesellschaft heißt; er habe die Kritik als eine Haltung entwickelt, in der Beziehungen subversiv und revolutionär vervielfältig werden müssten.

An der Kant’schen Schrift von 1798 habe Foucault »die Revolution als Ereignis« interessiert, der Augenblicksmoment, das Präsentische daran. Denn im raren Ereignis der Französischen Revolution habe sich nichts Geringeres als der Prozess der Aufklärung vollendet.

Hier ging es also um den schönen Widerstreit des Widerstreitenden, das Schillern der Revolte. Und was waren dann die revolutionären Kämpfe heute? – Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien, wusste Lorey mit subtiler Eindringlichkeit zu verkünden. In staatsbankrotten Griechenland werde nämlich gerade die »präsentische Demokratie praktiziert« und im massenarbeitslosen Spanien die »Ontologie der Ent-Unterwerfung« hochgehalten.

Mit Limits am Bankomaten? Mit kostenlosen Schulspeisungen? Mit Gratisstrom und Wasser für Bedürftige, die ihre Rechnungen nicht bezahlen können?

Na, hallo! Das war doch ziemlich schräg gedacht. Im Süden Europas experimentieren die Massen ja keineswegs mit »horizontalen Versammlungen«. Da versuchen säumige Hypothekenschuldner den Zwangsräumungen von Wohnungen zu entkommen. Die Zentralregierungen müssen unentwegt bei hochverschuldeten Regionen wie Katalonien oder Valencia als Nothelfer einspringen, damit die laufenden Rechungen, etwa im Gesundheitswesen, überhaupt noch bezahlt werden können.

Wer die Schuld daran trägt? Natürlich Schäuble und Merkel. Man brauchte Lorey gar nicht zu fragen. Die Politikwissenschafterin wollte erkannt haben, dass die ausgabefreudigen Linkspopulistischen in Griechenland und in Spanien die repräsentative Demokartie nicht vollends ablehnen. Daraus zog sie den Schluss, dass sich die mediterranen Menschen von heute »einander affizieren« wollen, dass sie neue Verbundenheiten mit anderen, ja mit uns, herstellen.

Foucault als Gesellschaftsdenker? Das hat etwas Karikaturenhaftes. Was sollte ein homosexeller Philosoph, der vor dreißig Jahren die islamischen Revolution bejubelt hat, zum »Schuldenschnitt« für bankrotte Unionseuropäer und zur »Keule des Stabiltätsgesetzes« zu sagen haben!

Den Linksfoucaultianer bereitete es in Wien die größte Mühe, aus dem Objekt ihrer Begierde einen Demokratietheoretiker zu machen. Dazu musste erst Foucaults Beschäftigung mit der antiken Polis und mit dem Kynismus in Stellung gebracht werden, man erinnerte daran, dass er gerne »die Leute« für Mensch gesagt hat…

Anders taucht der Gleichheitsgedanke bei Foucault nämlich nicht auf.

Die Demokratie als Ereignis verlange einen »Bruch in der Lebensweise«, erklärte Lorey, der politische Erkenntnisinstinkt verlange eine »Produktion neuer Subjektivierung«. – Doch in der Vergangenheit ist immer nur das Plebiszit zu einem spontanen Ereignis der Demokratie geworden, die vorübergehende Anerkennung des Führerprinzips im Augenblick der Gefahr, um für das Kollektiv einen zeitlichen Handlungsraum zu gewinnen.

Das ist sicher nicht die Zukunftsmusik, die wir hören wollen.

Für einen Teilnehmer der Lesegeneration im langen Sommer der Theorie ist es schwer zu verstehen, warum jüngere Akademiker das Revolutionsgeschwurbel aus dem Theatrum Philosophicum von einst nachbetet, warum sie nicht mit einem sprachanalytischen Blick an die »polyvalenten« Illusionen der Linksintellektuellen der 1970er-Jahre herangehen.

Gut, die Welt will verändert werden; das scheint ja auch notwendig – und man braucht eine schlüssige politische Theorie dazu. Aber wer heute politisch etwas bewegen will, braucht nur in eine Parlamentspartei einzutreten und dort die impliziten Gesetze seines Gefangenseins zu durchbrechen. In den wortkargen 1970ern standen die Tore der Sozialdemokratie noch nicht so offen wie heute, und die Grünen standen noch überhaupt nicht zur Verfügung.

Genau das aber – die Spielregeln umkehren, die Systeme der Macht unterbrechen, das Gelächter im Räderwerk des Politikbetriebs anstimmen –, das wollen die heutigen Foucault-Fans ja gar nicht. Ihnen dient das schwierige Denken allein zum Distinktionsgewinn in der Schauarena ihrer universitären Karrierekämpfe.

Die Leistung der Generation Merve lag darin, diese Selbsttäuschung der akademischen Elite nach einer Weile durchschaut zu haben, der »Subversion des Wissens«, dem wilden Denken, dem mit der linken Hand Geplanten, den diskursiven Gegenstrategien in der Kunst, in den Kulturwissenschaften und in der Geschichtsforschung breiten Raum zu geben, im übrigen aber die taz zu abonnieren und wieder wählen zu gehen.

Es gehört schon einige Naivität dazu, die intellektuelle Verantwortungslosigkeit des Franzosen heute schön zu reden. Foucault sagte 1971 vor Studenten: »Was der Philosophieprofessor in seinem komplizierten Vokabular nicht mehr zu sagen wagt, wird vom Journalisten ohne Vorbehalt proklamiert«, und keine zwei Jahrzehnte später führte er uns am Regimewechsel im Iran vor, dass er nicht einmal die elementarste Regel des Journalismus, das Distanzhalten zu den Ereignissen, beherrschte.

Foucault forderte »die revolutionäre Aktion« müsse »zum Angriff auf Machtverhältnisse übergehen«, sie müsse gleichzeitig das Bewusstsein und die Institutionen erschüttern, er sprach von »Fronten« und »Kämpfen« innerhalb der Gesellschaft. »Drogen, Sex, gemeinschaftliches Leben, ein anderes Bewusstsein, ein anderer Typ von Individualität… Ist der wissenschaftliche Sozialismus im 19. Jahrhundert aus Utopien hervorgegangen, so wird der wirkliche Sozialismus im 20. Jahrhundert vielleicht aus Erfahrungen hervorgehen«.

Da hat er nicht getan; er konnte er gar nicht, weil sich Leben und Denken, Erfahrung und Ideologie eben nicht so plump als unversöhnliche Pole gegenüberstehen. Der Reformismus, behauptete Foucault, bestünde darin, die Institutionen zu verändern, ohne an das ideologische System zu rühren; beim Humanismus verhalte es sich genau umgekehrt.

Aber auch das war falsch. In Wahrheit haben sich alle Ideologien ständig weiterentwickelt; der Sozialdemokratismus war im Kalten Krieg ganz ein anderer als der Sozialdemokratismus der Babyboom-Generation. Der Faschismus eines Yukio Mishma war ganz ein anderer als der Faschismus der Rosenbergs, usw.

Ideologien sind von gesellschaftlichen Veränderungen noch nie unbeindruckt geblieben. – Wie hatte es zu solchen Fehleinschätzungen bei Foucault kommen können?

Die Antwort ist: Er war eben außerhalb der Archivalien vor allem ein typischer westeuropäischer Liberaler, der sich durch persönlichen Einsatz zu jenem Verbalradikalismus berechtigt sah, den er seinen Gegnern untersagte.

Ende der 1970er-Jahre hatte sich um Foucault ein fester Diskussionskreis gebildet, der sich im Hörsaal eines Krankenhauses traf. Er versäumte kein Thema, ob es nun um den Libanon ging, um Afghanistan oder Chile, um den Niedergang der Gewerkschaften oder die Sozialversicherung, die antikommunistische Opposition in der Sowjetunion oder die Guerilla in Mittelamerika. Foucault eilte nach Polen, um Solidarność  zu unterstützen, er erhob seine Stimme für Vietnamflüchtlinge, in der Gefängnisbewegung, unternahm Meditationen in Auschwitz – Foucault war auch eine überdimensionale Komiteedame, ein sich in der Zivilgesellschaft verausgabender Intellektueller, der die Existenz staatstragender politischer Kräfte insgeheim verachtete.

Die Foucault-Forscher werden eines Tages seine überragende intellektuelle Leistung mit dieser Hyperaktivität seines persönlichen Lebens abgleichen und bilanzieren müssen – all das übermenschlich Gewissenhafte daran, das Weltretter-Syndrom mit Foucaults beeindruckendem Willen zum Wissen, mit seiner unendlich gelehrten Überlagerung von Karten und Blicken.

Dann allerdings wird Foucault als der typische Intellektuelle der europäischen Buchkultur erscheinen, der die bestehende Ordnung immer schon im wesentlichen für unabänderlich hält und dennoch – trotzig, widerständig – meint, dass unbedingt überall geholfen werden muss, wo eben geholfen werden kann.

Das wird wohl noch eine Zeit lang dauern. Im heurigen Sommer können sich die akademischen Linksfoucaultianer, die solidarisch in Griechenland baden gehen, noch im umfassenden Sinn beim Schwimmen als Philosophen fühlen.

© Wolfgang Koch 2015

Foto: Volksgarten Pavillon

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Tjark Kunstreich – Der Homosexuelle als Aufklärer (3/3)

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Michel Foucault sah im gleichen Rederecht der Athener Demokratieform einen Nachteil, da es Schmeichelei und Unaufrichtigkeit begünstigte. Dieser Mangel der Demokratie müsse durch den Mut ausgeglichen werden, »alles zu sagen«. Allein die Tugend des Wahrsprechens respektiere die Komplexität der Dinge.

»Alles zu sagen« war in der klassischen Epoche der Aufklärung die radikale Position de Sades. Freilich wurde Sexualität kaum je so gebändigt dargestellt wie durch diesem verrufenen Schriftsteller. Das leidenschaftliche Verlangen nach Überschreitung, das freie Spiel der Lüste, erfüllte in seinen Romanen letztlich nichts als das strenge Ritual eines vom Zahlenglauben besessenen Moralisten.

Was also ist Aufklärung? Und was wäre eine über sich selbst aufgeklärte Aufklärung?

Tjark Kunstreich behauptet, dass es zwischen 1969 und 1987 eine politisch fruchtbare Homosexuellenbewegung gegeben hat, die durch den intellektuellen Auftritt von Gender und Queerness zur unpolitischen Rede der früheren Subkulturen zurückgekehrt sei.

Was meint er damit?  »Schwule Sprache ist uneigentlich», hat Hubert Fichte einmal in Hinblick auf Henry James gesagt, »schwule Sprache ist indirekte Sprache«. Sie kommuniziert mittels Soussentendus, Verfremdungen, Übertreibungen, Ironie und Travestie.

Mit der Camp-Kultur scheint Queer genau zu diesem Sprechen in Codes zurückgefunden zu haben, uns es hat schließlich so ergiebig damit in die Massen ejakuliert, dass sich die ungebetenen Retter von Abendland und Familie heute von einer »homosexuellen Weltverschwörung« bedroht sehen.

Freilich täuscht diese Gegnerschaft. Nach Kunstreich geht mit Gender und Querness einfach nur ein Kalkül der Mode und der Unterhaltungsindustrie auf und wirft links und rechts ein paar juristische Blasen.

Wir haben in Wien gerade am Eurovisions Song Contest erlebt, dass Homophobie nicht in dem Maße verschwindet, wie sexuelle Differenzen anerkannt zu werden scheinen. Was hat der ORF nicht alles investiert, um Conchita Wurst vom Image eines Schwarzen Raben zu befreien!

Dazu musste dieses Image überhaupt erst mühsam aufgebaut werden – denn in St. Veit an der Glan, in Knittelfeld oder in Favoriten wussten die Menschen bis 2013 noch gar nichts von der Existenz von Dragqueens. Österreich und Bayern sind katholischer Boden; da kennt man nur Priester als Männer in Kleidern.

Dann kam Kopenhagen, der Sieg beim Song Contest 2014, und die dort melodramatisch zerstörten Kulissen des Ressentiments musste in Österreich noch einmal errichtet werden.  Wieder und wieder, um in einer hypertrophen Toleranzpredigt den ganzen Regenbogen der sexuellen Abweichungen von Verblendung und Rückständigkeit reinzuwaschen.

Die Affektlandschaft des Publikums hat sich aber nur kurz missionieren lassen. Man baute mit Cochita eine Fassade auf von Frieden und gegenseitiger Wertschätzung, die eben vor allem darauf abzielte, den Sieg bei einem internationalen Wettbewerb zu erringen und die Wertschöpfung im Stadttourismus zu steigern. – Mehr darf man von einer staatlichen Rundfunkanstalt auch nicht verlangen.

Der Coup gelang mit Camp, der letzte Errungenschaft der homosexuellen Kultur, seit die Texte von Genet und Fichte in die Ramschregale gewandert sind und seit in den einschlägigen Buchhandlungen mehr schwullesbische Pornos über den Ladentisch gehen als Krimis und Theorie-Reader.

Hatte die Subkultur nicht schon länger eine Affinität zum Song Contest? Gewiss. Und Conchita verkörperte auf geradezu perfekte Weise die aus der Performance-Theorie bekannte Annahme, das Subjekt würde sich erst durch Handeln in sich selbst einüben.

Camp, dachte man, verdreht das Zeichensystem der sich als homophob verstehenden kulturellen Ordnung, Camp liebt den schlechten Geschmack auf einer ironischen Meta-Ebene, Camp ruft hybride Identitäten an, künstlerische Grenzüberschreitung – Performance, Maskerade, hyberbolische Ästhetik!

Camp kondensiert Kultbilder aus entgegen gesetzten Welten, Camp appelliert an Imaginäres, Camp arbeitet an der symbolischen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit.

Conchita performte ihre Geschlechtslosigkeit und wurde massenmedial als Repräsentantin der »europäischen Werte« gehypt. Aber nirgendwo in Europa ist innerhalb der letzten Jahre eine homotolerante Einstellung zur herrschenden Einstellung geworden. Im Gegenteil, bei der von Conchita Wurst im Mai 2015 mitmoderierten Nachfolgeshow wurde die zweiplatzierte russische Teilnehmerin vom Live-Publikum in der Wiener Stadthalle rücksichtslos ausgebuht; der Toleranz-Zirkus nahm Polina Gagarina gnadenlos in Sippenhaft für das Regime in ihrer Heimat, mit dem sie gewiss weniger verschwestert ist als Conchita mit der Nomenklatura im eigenen Land.

Im Mai 2015 geschah kein weiteres Wunder, im Gegenteil, der Gewinner des Song Contests aus Schweden goss die TV-Unterhaltungssendung wieder zum heteronormativen Beton, ja, schlimmer noch, das österreichische TV-Publikum hatte bereits in der Vorausscheidung das Verschwinden der Maskulinarität dahingehend betrauert, dass es lieber einen Cowboy am brennenden Piano zum Bewerb entsandte als noch eine Irritation im Geschlechterkrieg.

Schon Monate bevor die Herrschaftspraxis der Toleranz beim Großevent 2015 ihr hässlichstes Gesicht zeigte (Shaming), weinte die Normalgesellschaft dem devianten Phönix keine Träne mehr nach.

Der »queere Fernsehmessianismus« – eine Formulierung des Wiener Camp-Forschers Georg Vogt – hat als Aufklärung vollkommen versagt und nur die Gästebetten der Bundeshauptstadt für ein Wochenende gefüllt. Kulturelle Hybridität erwies sich ein lohnender Markt, aber eben nicht als Emanzipationsprojekt.

Aufklärung, das heißt Distanz aufbauen, einen freien Blick entwickeln, Vorurteile aufdecken, um das scheinbar gesicherte Wissen im Dollhouse der Realität zu erschüttern. Alles richtig!

Aber Aufklärung schreitet über öffentliche Konflikte voran. Das tut sie bei der Konstruktion von Opfermythen, auf die der Queer-Gesang setzt, zumeist nicht. Opfermythen bleiben beschränkt auf eine Medienwolke. Eine an Bürger- und Menschenrechten orientierte Antidiskriminierungspolitik hingegen zwingt die Menschen, sich mit den Steroptypen im Kopf auseinander zu setzen.

Wer die Polaritäten von Mehrheit und Randgruppen leugnet und wer jede gesellschaftliche Auseinandersetzung auf sexualpädagogische Didaktik reduziert, verdunkelt Hierarchien.

Wohlverstandene Aufklärung plädiert nicht primär an den Staat als legitimen Handlungs- und Ermächtigungsraum, sie stellt in ersten Linie eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit her, die real ist – als Demonstrationszug auf der Straße, als Aufstandszeichen, nicht für die Medien inszeniert, sondern für die physisch Anwesenden.

Aufklärung ist ein historisch unabgeschlossener und ergebnisoffener Prozess, da ja ständig neue Vorurteile nachwachsen. Doch ihr Hauptversprechen hat von Anfang an nicht gestimmt: die Ausstattung der Subjekte mit Wissen hat sie nie und nirgendwo befreit.

Vorurteilen ist weder mit Bildung noch mit Gesetzen abzuhelfen. Sie sind hartnäckige Mauern der Verfolgung, die man zunächst als notwendiges Übel akzeptieren muss.

Das gendertrashige Programm der Queerness tut das nicht. Das gendertrashige Programm der Queerness stellt eine Erwartungshaltung her, die sich auf immer neue Abweichungen reduziert. Gegenüber der Mauer des Schweigens und der Ablehnung beharrt Queer auf eine Vielfalt von Geschlechteridentitäten, ruft nach Trauring und Familiengrab – aber das erinnert ein wenig an die Libertins des 18. Jahrhunderts, die den intrapsychischen Charakter ihrer ekstatischen Plädoyers nicht in Rechnung stellten.

Auch der Marquis hatte ja keine Lust der Komplexität von Verhältnisse Rechnung zutragen; seine Schreibwut war ein persönlicher Akt der Überlebens und der Abreaktion – ohne Rücksicht auf die Folgen für sich und andere. Das Verlangen seiner Lüstlinge, Sex- und Foltermonstren, sein wütender Atheismus – das alles karikierte den Einflussverlust der Aristokratie. Ein neues Verhältnis im Umgang miteinander schuf es nicht.

Das akademische Konzept der Intersektionalität sucht heute einen Ausweg für Theorie und Forschung aus dem Dilemma. Es verzichtet auf jede weitere Fragmentierung der Kategorie Gender, kritisiert Identitätspolitiken und stellt grundsätzlich die Homogenität jeder Gruppe in Frage.

Auch der Intersektionalität liegt allerdings die Annahme zugrunde, dass Ungleichheit auf Ausschlüssen basiere. Ihrer Forscher und Forscherinnen würden gerne überhaupt nur mehr  Difference Studies betreiben und den Diskriminierungsdiskurs durch immer weitere Unterscheidungen ersetzen. Die sozialen, kulturellen und sexuellen Merkmale werden so lange übereinander gebreitet, bis nur mehr Aussagen über Individuen mit vielen fehlenden Kettengliedern dazwischen möglich sind.

Das mag für die Forschung ein gangbarer Weg sein, die homosexuelle Emanzipation kommt mit beruhigendem statistischem Argumentieren keinen Schritt weiter.

Was also wäre heute Aufklärung? 1971 hat der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss in einer aufsehenerregenden Rede vor der UNESCO die nivellierenden Tendenzen der Menschenrechte beklagt. Er warnte vor einer weltweiten homogenen Zivilisation, die im Kampf gegen alle Formen von Diskriminierung die kulturellen Traditionen der vorindustriellen Gemeinschaften austreibt.

Fast ein halbes Jahrhundert später wären wir schon froh, wenn die islamistischen Dschihadisten in ihrem Mehrfrontenkrieg im Mittleren Osten das Internationale Kriegsvölkerrecht von 1907 anerkennen würden, und umgekehrt wären wir schon froh, wenn die internationale Militärallianz die IS-Kämpfer als ungesetzliche Kombattanten anerkennen und nicht mehr als verabscheuungswürdige »Terroristen« dämonisieren würde.

Von Menschenrechten ist in den Grosskonflikten unserer Tage schon lange keine Rede mehr! Wir reden jetzt von »Menschlichkeit«, und das gilt dann auch für Flüchtlinge aus Armutsländern, die bloß ihre schwierige materielle Situation im Ausland verändern möchten. Der Universalismus der gleichen Rechte in halbwegs funktionierenden Staatsgebilden droht jede Schutzfunktion zu verlieren, weil er schlicht den politischen Charakter von Unterschieden geleugnet:

… den Unterschied von Terroristen und Freischärlern, … den Unterschied von Wirtschaftsmigranten und politischen Verfolgten, … den Unterschied von diskriminierten Homosexuellen und lustigen Cosplayern.

So wie ethnische Minderheiten in kommerziellen Kampagnen als »positiver Rassismus« instrumentalisiert werden, dient die sexuelle Abweichung heute als Zeichen der Weltoffenheit gegenüber Indivualitätsverweigerern, gegenüber Leuten, die sich als Produzenten und Konsumenten nicht selbstoptimieren wollen, kurz: als moralische Keule gegenüber der stets mit Renitenz ausgestatteten Masse.

Die Queers kurbeln an der Eskalationspirale einer fortwährenden gegenseitigen Konstruierung. Und wenn schließlich alle mit der Einübung von Toleranz beschäftigt sind, ist niemand mehr da, der die Gesellschaft verändern könnte.

Genderpolitik bedient sich ebenfalls einer binären Lesart im Kulturkrieg der moralischen Werte. In diesem Kräftefeld zwischen ästhetischen und nicht-ästhetischen Interessen ist für das politische Begehren nach Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit nichts gewonnen. Der einzige Profiteur der aktiven Semiotisierung der Körper ist die Unterhaltungsindustrie. Querness bringt Quote durch eine meta-sexistische sinnliche Note.

Einen gesellschaftlichen Wandel führt die kulturelle Erregung nicht herbei – nein, sie blockiert ihn sogar. Der Homosexuelle wird in kapitalistische Verwertungszusammenhänge eingemeindet.

»Der Platz der Homosexuellen ist geographisch ihre Subkultur und psychisch ihr Unglück«, schließt Tjark Kunstreich seinem dramatischen Gegenwartsbefund. Er weist Lesben und Schwulen damit einen zwar fixen, aber eben unvorteilhaften Platz im Schöpfungsplan zu.

Gute Emanzipationspolitik sei immer einem »Assimilationsparadox« ausgesetzt und müsse letztlich scheitern: das Bemühen um Anerkennung muss letztlich missglücken, weil die Angleichung nie vollständig sein kann, ohne die eigene Differenz völlig aufzugeben. »Die Gesellschaft, die ihre Minderheiten in unterschiedlichem Maße zur Abgrenzung und Selbstverständigung braucht, verweigert sowohl die Assimilation wie die Möglichkeit, mit der Differenz gleichberechtigt in ihr zu leben«.

Diese »Dialektik der Abweichung«, die die Subjektivität unterdrückt, die sie schafft, sei, so Kunstreich, die Voraussetzung für das Projekt der Aufklärung gewesen. Emanzipation gehe immer bis an die Grenze der Selbstaufgabe, sie gehe aber keineswegs einher mit der ersehnten Anerkennung.

Diesen Widerspruch, so Kunstreich, liege im Bauplan der bürgerlichen Gesellschaft verborgen. Wer sich unbehaglich in ihm fühlt, der arbeite mit an der Niederlage der Queer-Communitys. »Emanzipation«, sagt dieser Autor, »setzt die Minderheit, die sich ihrer selbst bewusst ist, voraus«.

Was heisst das? Die Homosexuellen brauchten eine politische Geschichte, um als Minderheit anerkannt zu sein. Und zweitens gehöre zum Schöpfungsmythos der Homosexuellen nun mal  die Verneinung der Fortpflanzung.

***

»Was, kein Trauring? Keine Kinder adoptieren, kein gemeinsames Abendbrot? Muss das sein!… Alle Menschen über Dreißig verzichten doch gern mal auf die Permanenz des gegenwärtigen Augenblicks und tauschen das Versprechen einer sexuellen Freiheit ohne Verantwortung gegen partnerschaftliche Treue ein. Man muss doch auch mal an seine Gesundheit denken«.

© Wolfgang Koch 2015

 Tjark Kunstreich: Dialektik der Abweichung. Über das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation, 133 Seiten, konkret Texte 67, Hamburg 2015, ISBN 978-3-930786-78-7, EUR 15,-

 Christine Ehardt, Georg Vogt und Florian Wagner (Hg.): Eurovision Song Contest. Eine kleine Geschichte zwischen Körper, Geschlecht und Nation, 344 Seiten, Zaglossus, Wien 2015, ISBN: 978-3-902902-32-0, EUR 19,95

 Foto: T. Kunstreich

 

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Peter M. Schuster – Christine Lavant zum 100. Geburtstag

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Du fühlst dich jung, gefährlich jung, nicht wahr?
 
Viel lieber säße ich noch tief im Mohn
bei Trost und Hoffnung und ein wenig Lüge,
denn hier trägt alles schon die klaren Züge
der argen Wahrheit – man erfriert davon.
Gib doch zu, dass dir meine Schwäche zuwider ist!
 
Ich höre nicht hin, ich hause unterm Tage.
Das sehe ich! Jeden Tag sitzt du in der Stube und strickst!
 
Soll ich mit nackten Sohlen
auf den Stoppeln tanzen gehen
und vom Wind mich würgen lassen?
Nein, das brauchst du nicht, wenn ich draußen meine Aquarelle male, und
auch in der Nacht brauchst du das nicht, wenn der Nordwind weht, da
klammere dich lieber an mich!
 
Du hast die Landschaft zwischen uns verändert.
An Jeglichem zwischen Wolken und Wurzeln ist Arges geschehen.
Ja, es ist nicht mehr so mit uns wie damals am Lavant-Kai. Da hast du dir
diesen Mann – den nächst besten Hexenmeister! – genommen. Keinen
Lichtgott! Wohl einen mit Licht und Farbe Schaffenden, aber einen Bedürftigen
wie du, keine Sonne mehr in den Gliedern, 36 Jahre älter als du, aber
doch einen Mann! Wir standen in einer Haustornische. Ich drückte mich an
dich, verzweifelt so vorbei an dich, da dachtest du:
 
Er braucht mich! –
Aber wir müssen jeden Tag mindestens einen Strohhalm aus der Erde stampfen,
um ihn einem Ertrinkenden hinzuhalten, auch wenn uns selbst das Wasser schon
in den Mund rinnt. Oft ist es das Schwerste, zu entscheiden, wem man den erstrittenen
Halm hinhalten sollte. Wahrscheinlich – dem Nächsten. Aber es ist meist
furchtbar. Es tötet den Funken unserer Kräfte meist bis zu einer Lauheit herab, die
nichts mehr vermag.
Und diesen Funken bringst du mir heute zurück?
 
Als wir heirateten, waren wir so arm, daß ich am 1. Tag nach unserer Hochzeit in
die Lavantauen ging, Wurzeln graben für eine Frühlingssuppe. Natürlich erwischte
ich giftige, und wir wurden beide schwindlig. In der Nacht ließen uns die Ratten
nicht schlafen. Wie eine Irrsinnige bin ich oft stundenlang im Bett gesessen u. hab
mir den Kopf gehalten.
Jeder bezwingt es auf seine Weise. Ich male am Tag!
 
Meinen Fingern befiehlt er, zu schreiben
eine Botschaft des Elends, die niemand erkennt,
Mag sein! Aber deine Bilder sind nicht meine Bilder!
 
Muß jetzt einen Singsang finden
für das bißchen Haut und Knochen
und den gelben Schierling kochen
und das Seilchen richtig winden.
»Unsere Ehe«, hörst du?, sagt man, »verdient ja in keiner Beziehung diesen
Namen«. »Sie bürdet dir nur neue Lasten auf.« Und mir? Von meinem
Kreuzweg spricht niemand? Die Zeit etwa, die du mit dem Wiener Berg
verbracht hast! Dafür wirst du jetzt warten müssen,
 
Und das kann sich noch sehr lange hinziehen
mit dem 85jährigen Mann mit Herzwassersucht!
Josephus Benedictus Habernig ließ ich an meinem Grabstein einmeißeln,
missfällt dir das? Man soll sich an meinen Stil erinnern. Ich habe Stil! Du
aber wirfst dich wie
 
eine schamlose Proletin
 
den Leuten an die Brust. Ich erinnere dich nur an den Präsidentschaftskandidaten
Jonas, den du bei seiner Rundfahrt mit deinen Werken abgepasst
hast und deinen hysterischen Anfall bei der Dichterzusammenkunft in Seggau,
wie der Herr Stadtpfarrkaplan Pettauer erzählt. Und dass du eine,
»was ja die Wahrheit ist, aggressive, gottlose Person seiest und zeit deines
Lebens eine sehr berechnende, Ruhm und Erfolg einkalkulierende Frau«.
Ich bin ein einfaches und durchtriebenes Geschöpf.
Du hast wohl Hauswurz gekaut und Mohnsud getrunken,
als du dabei warst, mich auszuatmen –- Herr Vater?
 
Mit allen Wassern bist du gewaschen: Das ist es. Früher hätte man gefunden,
wie Kurt Klinger schreibt, »der böse Geist spräche mit verstellter Stimme«
aus dir, und man hätte dich verbrannt! Doch heute, nach deinem 75.
Geburtstag, kennt dich kaum noch jemand in Klagenfurt, ich habe gefragt,
keine zwei Parteien im Sternhochhaus wissen noch, dass du dort gewohnt
hast. Hat sich das also ausgezahlt, dein ewiges Gejammer, ich behindere
dich beim Schreiben?
 
Ich habe ja nie schreiben wollen, ich hab müssen.
 
© Peter M. Schuster 2006
 
Die Textpassage entstammt einem im Juli 1990 entstandenen Essay mit dem Titel »Ich bringe den Funken zurück, Sonne«. Schuster zitiert darin aus Gedichten und Briefen der Kärntner Dichterin, die 1966 mietfrei im einzigen Hochhaus Klagenfurts logierte. Der Autor begleitet sie auf einer fiktiven nächtlichen Wanderung. Erinnerungen an Lavants Freundin Hilde Domin und an Lavants Ehepartner Josef Habernig werden wach.
 
Peter Maria Schuster: Und was geschieht mit dem Licht? Physiker, Dichter und andere Reisende – Essays. ISBN 978–3-901585–08-1 (ISBN-10: 3-901585-08-7) Oberneuberg 2006, 248 Seiten, EUR 14,40, www.livingedition.at
 
Foto: echophysics

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Michel Foucault – Der Mensch ist nicht mit sich zeitgenössisch (4/4)

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Eine gute Theorie muss leicht sein, wie der Schatten einer Forelle im Wasser. Das lässt sich mit einiger Berechtigung von dem Beitrag des Frankfurter Kulturwissenschafter Andreas Reckwitz zur Wiener Foucault-Tagung im Juni 2015 behaupten.

Für Reckwitz lieferte Foucaults lebenslange denkerische Anstrengung im Kern eine Sichtbarkeitsordnung der spätmodernen Gesellschaft. Der ungeheure Raum dieser Ordnung war disziplinär, seine Kräfte bezogen sich über den Sehsinn weit hinaus auf alle Aufmerksamkeiten der Lebenswelt und er stellten das Überwachen und Strafen von Normabweichungen in den Mittelpunkt.

Reckwitz nennt die überkommene Sichtbartkeitsordnung auch »Rationalisierungsdispositiv«, weil das Überwachen und Bestrafen abweichenden Verhaltens nicht einfach feudalherrschaftlich mit dem Recht des Stärkeren, mit der schützenden Autorität, o. ä. begründet wurde, sondern mit aufklärerischem Fortschrittsglauben.

Reckwitz erinnerte daran, dass Foucault seit mehr als dreißig Jahren tot ist und seither nur wenige Steine aufeinander geblieben sind. Das Rationalisierungsdispostiv sei mittlerweile von einer »postdisziplinären Sicherheitsordnung« abgelöst worden, bei der die Produktion von affektiv aufgeladenen Zeichen im Zentrum des Sozialen steht.

Reckwitz nennt den neuen Rhythmus der Zeit darum auch »Kulturalisierungs- oder Kreativitätsdispositiv«. Dieses hat nichts mehr mit der tiefen Erniedrigung des Ausgeliefertseins an unansprechbar namenlose Machthaber zu tun, wie das Foucault noch als Standard-Ausrüstung der Moderne beschrieben hat.

Bereits 2010 definierte der deutsche Kulturwissenschafter Kreativität als jenes »Eigenschaftsbündel einer wünschenswerten und zugleich allgemein erwarteten Subjektivität, die in der Lage ist, Neues zu schaffen und dabei sich selbst immer wieder auf überraschende Weise erneut« (edition Suhrkamp 2573).

Der Künstler und Bohemien, meinte Reckwitz in dem besagten Essay, werde als ästhetisch-ökonomisches Hybridprodukt in die postfordistische Ökonomie injiziert. Der entscheidende Schub habe um zirka 1900 mit dem Taylorismus eingesetzt und er sei durch die Digitale Revolution noch einmal gehörig verschärft worden.

Reckwitz bezieht seine These auf rechnerunterstützte Selbstoptimierung in der Gesundheitskontrolle (SQL) sowie auf das Erstellen von Konsum- und Riskoprofilen (Oneline Tracking). Im Kulturalisierungsdispostiv hätten die strenge Strafandrohung und der asymmetrische Blick eines Kontrollsregimes, wie sie Foucault beschrieben hat, ihre universelle Gültigkeit verloren. Das Subjekt würde sich nicht mehr verbergen, sondern um jeden Preis Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen.

Das Rationalisierungsdispositiv hat den Beobachteten auf seinen Körper reduziert. In den neuen Sichtbarkeitszusammenhängen hingegen ist der Gorillakäfig die eigene Datenspur in den Netzwerken: das Profil, die Avatare, der Verlauf der Online-Aktivitäten. Die Affektstruktur, die noch im 19. Jahrhundert das Künstlergenie ausgezeichnete, expandiert damit in das gesamte soziale Feld – die »Sichtbarkeitsordnung kompetetiver Singularitäten«, wie das Reckwitz nennt, wird im hohen Maß unberechenbar und verwandelt sich unter der Hand in den Zwang präsent zu sein.

Hat unter den alten Griechen Schlichtheit noch als eine Vornehmheit gelten können, zählte es damals als Tugend, sich selbst zu beruhigen und sich unter Menschen zurückhaltend zu geben, sind wir nun beim anderen Extrem angelangt: Wer nicht dabei ist, existiert schlichtweg nicht.

In dieser Situation erfasst den Einzelnen leicht ein Gefühl der Wertlosigkeit. Am Boden liegend, betrachtet er endlose Himmelserscheinungen. An die Stelle der panoptischen Ordnung, der sich die Delinquenten zu entziehen versuchten, treten Selbstherabsetzung und Depression als Volkskrankheiten. Man befreit sich nicht mehr aus dem Zwang der Geschäfte, und Selbstgenügsamkeit gilt als grenzenlose Einfalt.

Reckwitz blieb freilich nicht bei dieser scherenschnittartigen Gegenüberstellung von zwei Sichtbarkeitsordnungen stehen. Er meinte bereits ein drittes Dispositiv heraufdämmern zu sehen: nämlich »eine Politisierung der Sichtbarkeit«.

Als Beispiel diente dem Theoretiker aus Frankfurt das politische und gesellschaftliche Sichtbarmachen von homosexuellen Paaren. In den letzten Jahrzehnten seien Schwule, Lesben und Transgender-Personen immer stärker in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Das begann mit den Outingskandalen und Regenbogendemos der 1980er-Jahre und führte schließlich zum Kampf um rechtliche Gleichstellung mit heterosexuellen Partnerschaften. Jede von der Mehrheit wahrgenommene sexuelle Differenz sollte endlich als normal hingenommen werden.

Diese Sicht der Dinge relativiert einiges an der Kritik der Genderpolitik, wie sie Tjark Kunstreich vorgenommen hat. Also, dass die Queers an der Eskalationspirale einer fortwährenden gegenseitigen Konstruierung kurbeln und dass sich die Subkultur tendenziell im Internet verläuft, dass die Homosexuellenpolitik keinen geographischen Ort mehr hat und sich das gesellschaftskonstitutionelle Projekt der Aufklärung in Foren verliert, die gar kein Forum sind, sondern Dienste zum ständigen Faktencheck. Es relativiert die an und für sich richtige Beobachtung, dass der Kampf um gesetzlich abgesicherte Privatheit in der Liebe einem Wettlauf um Follower weicht, der überhaupt nichts mehr garantiert.

Was, darf man heute fragen, wenn die Antidiskriminierungsarbeit der Homo-Ehe zuerst einmal das Sprechen einer jüngeren Generation wäre? Was, wenn die neuen Online-Offline-Hybriden ein Maximum an Meinungen integrieren, wenn sie eine viel größte Vielfalt an Themen bearbeiten als klassische Politikformen, und wenn die Genderpolizei schlicht auf unglückliches Bewusstsein und Melancholie im Kampf verzichten will?

Es stimmt schon: Die Fetischisten der Disziplinarordnung straft die Geschichte, aber das heißt doch nicht, dass das Kreativititätsdispositiv nicht auch überwunden werden kann.

Reckwitz’ Thesen zeichnen dadurch aus, dass dieser Forscher im Gegensatz zu anderen Foucault-Vermessern ohne große Klage im Jetzt angekommen ist. Es würde sicher nicht schaden, sein Kreativsujekt mit der außergewöhnlichen Geschichte der Gewalt von Bildern, mit dem Diktat der Sichtbarkeit, wie es Marie-José Monzain 2002 beschrieben hat, zu konfrontieren.

Erst in der Zusammenschau der Sichtbarkeitsordnungen mit der kulturell unangefochtenen Vorherrschaft des Sichtbaren wird ein Schuh aus der These von der Politisierung der Sichtbarkeit.

Wenn wir nämlich Rechwitz Recht geben, dass die Politisierung durch den Genderdiskurs die schwarze Legende von der häretischen Liebe entdramatisiert, und zugleich Kunstreich Recht geben, dass die homosexuelle Bürgerrechtsbewegung die Unterdrückerkultur in Frage stellt, so gibt es gute Hinweise darauf, dass die Emanzipationsbewegung nicht von der Straße, sondern aus dem Nonkonformismus der Filmproduktionen ihren wichtigsten Anstoß erhalten hat.

Vor dem Hintergrund dieses dezidierten Neuerungswillens in der Kultur mag es sinnvoll sein, einen Moment in der Geschichte Emanzipation innezuhalten.

Es war Dominique Fernandez, der in seiner beeindruckenden Studie Le Rapt de Ganymède (1989) auf eine Reihe von Filmen verwiesen hat, die das Bild vom tragischen, krankhaften oder hysterischen Homosexuellen nachhaltig überwunden haben. In John Schlesingers Sunday, bloody Sunday von 1971 drehte sich erstmals die Handlung ganz um Persönlichkeiten und den Charakter der jungen Männer und nicht um die Hoffnung, eines schönen Tages einen würdigen schwulen Ehepartner zu finden.

Wie später Pedro Almodovar verabschiedete sich Schlesinger von der heroischen Darstellung der Liebesleidenschaft, die aus dem inneren Masochismus oder durch den Zusammenstoß mit der Gesellschaft zerstört wird. Das sei ein neuer Stil von Filmen gewesen, so Fernandez, den nicht mehr Erbarmen mit dem Unglück prägte, sondern Begeisterung für die Kühnheit homosexueller Beziehungen.

Die genuine Politisierung der Homosexualität wäre demnach nicht erst das Resultat einer neuen Sichtbarkeitsordnung in der Wechselrede der Political Correctness, und auch nicht die Konfrontation der Mehrheitsgesellschaft mit ihren Vorurteilen in einem Bürgerrechtskampf, wie das Kunstreich vorschwebt, sondern die Produktion von mutigen Meisterwerken, die die seit zweitausend Jahren über Homosexualität angehäuften Irrtümer und Verleumdungen durch erzählerische Mittel beiseite geräumt haben.

© Wolfgang Koch 2015

Foto: Volksgarten Pavillon

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Vom Schlawinertum in der Sommerhitze der Brotfabrik

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Man muss Schlawiner nicht eigens mit »ie« schreiben, um zu signalisieren, dass diese erdige Gestalt zu Wien resultiert wie Lipizzaner und Riesenrad. Man könnte es aber gewissermaßen als ein höheres Schlawinertum ansehen, dass die Ausstellung »SchlawienerInnen« in der kühlen Luft der Brotfabrik verlangt, was ihr allein doch nicht zusteht.

Als Schlawiner gilt außerhalb Wiens ein windiger, unverlässlicher Typ; in Wien selbst ist er ein rotzfrecher Schlingel, von dem man noch nicht genau weiß, wohin er unterwegs ist. Er könnte ein Leinwandhausierer sein, ein Geomatiker, einer, der der Halbwelt angehört und deshalb auf alle höheren Weihen verzichtet, die da wären: Studien, Leistungsstipendien, Auslandaufenthalte, Diplome des Abstrakten und des Medienübergreifenden.

Beim Schlawiner ist das Sein heillos durch das Nichtsein zerrissen. Die fliehenden Tage sind bei ihm immer die gleichen, bis, ja, bis sich der Rauch eines Öldampfers auflöst in einem Regenbogen.

Ich bin schon seit vielen Jahren der Meinung, dass es im Kunstbetrieb zwischen dem Künstler und dem Galerienpublikum viel wichtigere Gestalten gibt als Kunsthändler, Sammler, Kuratoren und Kritiker; ich bin seit Jahren der Meinung, dass es im Literaturleben zwischen dem Autor und dem Leserschaft eine weit wichtigere Rolle gibt als die von Verlegern, Agenten und Feuilleton-Schreibern.

Ich nenne diese besonderen Menschen, die sich leidenschaftlich einer Kultursparte verschrieben haben, Aficionados. Ohne sie keine Vernissage, ohne sie keine Lesung, ohne sie stünden die Kulturtempel tatsächlich vor der Auflösung.

Nur wenige dieser leidenschaftlich mit Kunst beschäftigten Zeitgenossen schaffen den Sprung von der Passion in die Liga der Professionisten. So jemand ist zum Beispiel die seit 1984 in Wien lebende Israelin Ester Attar-Machanek. Sie zeichnet derzeit in der Galerie Loft 8 in der Brotfabrik für eine Ausstellung von zwanzig akademischen »SchlawienerInnen« verantwortlich.

Die Aficionada Attar-Machanek versteht unter diesem besonderen Menschenschlag Künstlerpersönlichkeiten, »die man unbedingt im Auge behalten muss«. Mehr an Konzept hält diese Schau tatsächlich nicht zusammen – kein Thema, keine bildnerische Technik, nichts als der unbedingte Wille dieser Kuratorin, vielversprechende Zeitgenossen frühzeitig zu entdecken, neue Talente vor den Vorhang zu bitten und ihnen eine elegante Bühne zu bieten.

Brotfabrik 9

Da ist zum Beispiel der in Wien arbeitende Litauer Andrej Polukord, der in Bildern und Bildobjekten rätselhafte Waldszenen abbildet, die er zunächst unter Einsatz des eigenen Körpers filmt, dann malt und schließlich in Modelliermasse übersetzt.

Da steht dann ein Menschenfigürchen auf einem aus der Wand ragenden Hölzchen, sprungbereit mit ausgestreckten Armen, und man erkennt plötzlich, warum die Menschheit die Kreuzform so fasziniert: weil sie erstens der Menschengestalt nachgebildet ist, und diese wieder mit der Gestalt der Wegkreuzung übereinstimmt.

Wer den fulminanten Kurzfilm Moving A Tree  von Avery Lawrence aus dem Jahr 2011 kennt, in dem der US-Amerikaner buchstäblich einen Baum zu Ehren seiner Großeltern umpflanzt, wird auch mit Polukord viel Freude haben.

 Brotfabrik 1

Simon Veres, geboren 1977, studierte Fotografie. Noch 2002 gingen seine Arbeiten in Richtung Comics. Inzwischen überzeichnet er am Bildschirm inszenierte Streetlife-Fotografie. Dabei entstehen dunkle, düstere Szenen wie aus dem Skizzenbuch von Filmchoreographen.

Was zeigen diese, wie Radierungen wirkenden Straßenbildern? Dass der Mensch allein aufrecht geht, dass er allein Hände besitzt, Sprache und Vernunft. Genau darum haben sich die Völker zu allen Zeiten ja ihre Gottheiten menschengestaltig vorgestellt.

Eine Schriftgraphik von Osama Zatar verkündet: »Ich komme aus meiner Mutter«. Auch wenn diese Worte an der Wand in Fraktur prangen, verblassen sie gegenüber einer ostafrikanischen Weisheit, die da lautet: »Kulea mimba si kasi, kazi kulea mwana«, was Swahili ist und bedeutet: »Es ist nicht schwierig, eine Schwangerschaft auszutragen, hart ist er das Aufziehen des Kindes«.

Im Fall des im Ramallah aufgewachsenen Künstlers blieben aus der Kindheit ungute Erinnerungen zurück. Der zweite Beitrag des israelischen Arabers ist nämlich ein lebensgroßes Selbstportrait aus Pappmasche. Es zeigt den Künstler beim Winkelstehen in der Galerie, wie er einst als Schüler strafweise im Klassenzimmer gestanden haben muss.

Winkelstehen ist eine psychische Tortur, die noch vor wenigen Jahrzehnten auch in Österreichs Schulen praktiziert wurde. Was wir hier allerdings nicht gekannt haben, ist, dass der Deliquent dabei auf den Mülleimer starren muss. So etwas hat wohl nur den Hitzköpfen im Nahen Osten einfallen können. Zatars Alter Ego jedenfalls blickt in der Galerie auf Papierschnipsel seiner eigenen Schularbeiten, die seine Eltern für den Künstler aufgehoben haben.

Für einen Schlawiner ist das Leben grundsätzlich immer lebenswert, ob er nun schreiend aus dem Bauch seiner Mutter kommt oder in einer Psychiatrie die Ethik des Schweigens ausübt. Darum findet sich die beeindruckendste Schlawinerin für mich nicht unter den akademischen Transmedialisten der Stunde, sondern ein paar Schritte weiter in einer Art Brut Galerie.

Dort zeigt die Autodidaktin Michaela Polacek grandiose mehrmotorige Zeichenarbeiten in opulenten Formaten. Eine direkte Konfrontation ihrer künstlerischen Fehden und Trotzreaktionen mit den präzisen Extraktionsprozessen von Thomas Kwapils im Loft 8 würde vielleicht klar machen, dass wir die inneren Karten der Weltorientierung immer schon an die Gewohnheiten anpassen und jedes noch so rudimentär erfasste Gebiet Inseln wider besseren Wissens, fiktive Orte, erfundene Sackgassen und Phantome der Versuchung enthält.

Polaceks zeichnerische Assoziationsketten werden von Kurator und Galerie-Leiter Florian Reese in die visuelle Nähe von »Pestsäulen und innerorganischen Strukturen« gerückt. Das passt natürlich gut zu einer Galerie, die von der Caritas betrieben wird. Aber es verkleinert diesen Metakosmos auch auf das Herzmanovsky-Orlando’sche der Barock-Nostalgiker.

Die erste Assoziation bei vielen Betrachtern gilt doch der japanischen Kakemono-Malerei. Viele Besucher denken an die luftigen Geäste von Nebel- und Wolkenwirbel im sogenannten chinesischen Stil der Nanga-Maler.

Polacek versicherte mir bei der Besichtigung, gar keine Asiatika zu kennen. Damit verpasst sie sämtliche Chancen, in die Intermundia von Manga und Anime einzutreten. Das macht absolut nichts. Michaela Polaceks Satellitenbilder sind nicht zur Unterhaltung nutze, sie sind bezaubernd und zugleich ein Übermittlungssystem ohne jeden Flüchtigkeitsfehler. Wie auf digitalen Karten kann man darin niemals an den Rand der Welt geraten.

Die Meister in Nagoya und Kyoto konnten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für ihren feinen Stil zu Samureis geadelt werden. Im 21. Jahrhundert zeigt eine solche Könnerin ihre Arbeiten unter den Freaks einer Art Brut Galerie.

So schaut die Hochkultur heute aus.

© Wolfgang Koch 2015

 

›Michaela Polacek‹ im Atelier 10, Brotfabrik, 1100 Wien, bis 10. August

www.atelier10.eu

www.estherartnewsletter.com

›Schlawiener‹ im Loft 8, Brotfabrik, 1100 Wien, bis 1. August

www.loft8.at

 

Abbildungen:

›Hängende Hopfgärten II‹ von Michaela Polacek, Zeichnung auf Papier  (Ausschnitt), 132×103 cm, 2014

›Ohne Titel‹ von Simon Veres, Zeichung auf Papier  (Ausschnitt), 29×42 cm, 2002

›OML_DVGG_017‹ von Simon Veres, Zeichnung auf C-Print, 60×108 cm, 2011

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Afrika im Gedicht – Klassiker, Talente, Gerümpelhalden (1/6)

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Angesagte Ereignisse sind immer mit Vorsicht zu genießen, auch am Buchmarkt. Die 815 Seiten, die der Schweizer Publizist und Entwicklungsexperte Al Imfeld in fünfzehnjähriger Kleinarbeit zusammengetragen und zwischen schwarze Buchdeckel gepresst hat, erheben den Anspruch, die erste umfassende Anthologie afrikanischer Lyrik seit 1954 zu bieten.

Damals hat Janheinz Jahn mit viel Verve und einem Konzept, das den afroamerikanischen Geist zweier Erdteile umfasste, die Literaturwelt aus ihrem Metropolenschlummer geweckt. Und 1975 bestätigte Wole Soyinka in seiner Anthologie Poems of Black Africa unter gänzlich anderen Gesichtspunkten die Auswahl dieses Deutschen.

Kann eine neue Anthologie dem so entstandenen Dichterkanon heute neue Namen hinzufügen? Findet Imfelds Sammlung einen Ansatz jenseits von Blackness und Négritude, der die weißen AutorInnen aus Südafrika nicht mehr ausgrenzt? Oder will er uns nur mit antikolonialer Agitationsware Geld aus der Tasche ziehen?

Gewiss, eine Anthologie ist ein Marktplatz. Aber hat denn die singende Seele des schwarzen Erdteils heute überhaupt etwas Dringliches zu sagen? Spricht die Arabellion in brauchbaren Versen? Ist die aufregendste Literaturproduktion seit den 1960er-Jahren nicht eher in Südamerika zu Hause denn in Afrika?

Insgesamt birgt Afrika im Gedicht über 1.150 Texte. Die 570 Gedichte, entstanden zwischen 1960 und 2014, sind zweisprachig abgedruckt und ausgerüstet mit Quellenangaben, Worterklärungen sowie einem zünftigen Autorenverzeichnis. Die Gedichte und Begleittexte kommen auch keineswegs als öde Bleiwüste daher, sondern unterteilt in 63 sogenannte Cluster.

Der Herausgeber ist vor allem ein Sammler. Er zauberte zahlreiche Gedichte aus seinem während vieler Jahrzehnte sorgfältig aufgebauten und gepflegten Beziehungsnetz und sieht darin die Ausbeute einer langen, außerordentlich aufmerksamen Lektüre – ein Lebenswerk.

Um es kurz zu machen: Man stößt in diesem Kompendium auf sehr unterschiedlichste literarische Qualitäten; man findet Geigen, die sich vor der Gesundheit der Vögel verneigen, aber auch kleine Buschschweine, die wenig empfindsam in der poetischen Persona durch den Wortgarten pflügen. Man liest durchaus Grandioses, Einmaliges, aber auch Problematisches, Antisemitisches gar; die Leserschaft bekommt Auskunft über die Strahlenverbrennungen des Schweigens, über das Tautrinken und die Verdoppelung der Worte… – und gleich daneben liefert das Buch Hagiographisches zum Diktator Gaddafi.

Beginnen wir bei den Klassikern, die in keiner gesamtafrikanischen Gedichtanthologie mehr fehlen dürfen:

Vom Frankoafrikaner David Diop erfahren wir, dass das Gleichgewicht, »das die kommenden Tage färbt«, im »Delirium der Zeiten/ und in der Ungeduld der Zeiten« keimt. Der seherische Nigerianer Christopher Okigbo mahnt die Tänzer, die anderswo in diesem Buch Kraft erhalten durch das Aufstampfen am Boden, an den Donner in den Wolken. Als Hauptministrant des Afroexpressionismus marschiert er mit der »leibhaften Stimme des Traums hinein in den Ameisenhügel«.

Vom Südafrikaner Dennis Brutus erfahren wir etwas über die Sturheit der Hoffnung. Jean-Baptiste Tati-Loutard aus dem Kongo weiss fabelhaft von der Pubertät zu fabeln. Der Nigerianer Wole Soyinka ist mit einer Anbetung Oguns und dem Thema Ausbeutung vertreten: »Die verführte Rasse/ erliegt den geölten Mechanismen der überlegenen Lüge«.

Mit zwei weiteren Gedichten wird der selbst gewählte zeitliche Rahmen der Anthologie 1960-2014 überschritten. Léopold Sédar Senghor ist mit einem Wort von 1956, der feinsinnige US-Amerikaner Langston Hughes mit einem Poem von 1925 enthalten.

Bis auf diesen schwarzen Amerikaner waren alle genannten Könner waren bereits in der Soyinka-Anthologie von 1975 versammelt. Lediglich die Südafrikanerin Wilma Stockenström fehlte damals. Eine Weiße, die in Afrikaans schreibt, hätte schlecht zur politischen Parole der Blackness gepasst.

Stockenström erzählt übrigens vom »wolframsharde haat«, vom wolframsharten Hass auf das Apartheitsregime, der 1984 in ihr im holländischen Exil immer weiter anwuchs. Und das ist natürlich ein sehr gelungener Moment, wie das spröde Schwermetall von hoher Dichte namens Wolfram in diesen verzweifelten Kurzversen allerhöchster Dichtung giftig zu schimmern beginnt.

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Über die seit Jahns und Soyinkas Anthologien kanonisierten Autoren hinaus finden wir in Imfelds Kompendium noch einige Talenten, Gelegenheitskönner, vergessene und neu aufstrebende Sterne. Da ist die unter dem Namen Lyra dichtende Madegassin Lalao Randriamampionona mit dem Thema Vollendung. Mazisi Raymond Kunene, der große Versepen über die südafrikanische Geschichte und die Zulu-Mythologie hinterlassen hat, steuert ein paar Zeilen über Musik bei. Von Babacar Sall aus dem Senegal erfahren wir etwas über das verkrampfte Lachen der Hungernden (»die klastischen Konvulsionen des inneren Gemurmels«).

Amüsant und lesenswert: die vom Tunesier Moncef Mezghanni verfassten Worte der Ente, die die Korrumpierbarkeit von Dichtung in der Ära vor der Arabellion brechtisch abhandeln; sowie die Poeme des koptischen Exilanten Gigis Shoukry.

Beeindruckt hat mich auch eine Bilderexplosion des in Frankreich dichtenden und lehren Kongolesen Kä Manga, der sich in die Tradition der Surrealisten stellt (»Damit die Seerosen tanzen!«) und drei Gedichte des Eduardo White aus Mosambik, der mich mit dem Satz »Weißt du,/ es gibt Tage, wo ich das Feuer erfinde« ad hoc ins Vertrauen zieht.

Das war’s dann auch schon!  Achtzehn beachtenswerte Lyriker von 258 insgesamt; zirka zwanzig lesens- und empfehlenswerte Gedichte aus einem ungeheuren Berg von 570 Poemen– Moment mal, soll das wirklich die Bilanz dieses Mammutunternehmens sein?

Dann ist da aber einiges schief gelaufen beim Brückenbauen zum neueren Afrika.

© Wolfgang Koch 2015

Al Imfeld (Hg.): Afrika im Gedicht, 586 Poeme auf 815 Seiten, zweisprachig abgedruckt, Offizin Verlag, Zürich 2015, ISBN 978-3-906276-03-8, EUR 60,-

Fotos: Autor und Marie Obermayr

 

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