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Vorläufige Warnungen an einen Jungpolitiker 1/10

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Lieber Julian Schmid,

das letzte Jahr war kein schlechtes Jahr für mich. Ich konnte als notorischer Linkswähler bei der Nationalratswahl die 100% intellektuellenfreie Regierungspartei SPÖ, deren führende Köpfe unter Regieren das Verwalten von Regierungsämtern verstehen, ankreuzen; oder ich konnte der Akademikerliste der Grünen meine Stimme schenken, die mich mit allerlei politischen Kontroll- und Sauberkeitsversprechen zu ködern versuchten.

Natürlich wusste ich, dass das Parlament in Österreich gar nichts effektiv kontrollieren kann. Das besorgen in diesem Land immer noch die jeweiligen Koalitionspartner in der Regierung, und sie besetzen dabei, vom Staatsminister ganz oben bis hinunter bis zum kleinsten ÖBB-Lagermitarbeiter, jeden staatlichen und staatsnahen Posten im bewährten Proporztauschverfahren.

Ich bin trotzdem zufrieden; mehr als die Wahl zwischen Pest und Cholera ist in einer Demokratie massenmedialen Zuschnitts einfach nicht zu haben. In den USA oder in Italien wäre alles noch viel schlimmer; da gibt es nicht einmal unanständige Sozialdemokraten und abgehobene Ökolinke.

Und so sitzt du also nun, mitgestützt durch meine Stimme, in einem dieser begehrten, ein wenig nach links und ein wenig nach rechts schwenkbaren Ledersitze des Allzu Hohen Hauses am Wiener Ring.

Das verstrichene Jahr war für dich ein eminent erfolgreiches Jahr. Freilich begleitet dich im Grund genommen schon seit deiner Entscheidung vor zehn Jahren, von der Schülervertretung weiter in die Politik zu gehen, eine dicke, fette Glücksträhne. Sie hat dich über Kantinenboykott und Kopiererstreik in der Schule, über Delegiertenreisen und Parteitagsreden in den Nationalrat getragen, wo du nun als unverbrauchter Volksvertreter hoffst, die Verhältnisse zum Guten zu verändern.

Und bewegt muss dieser Tage nun wirklich eine ganze Menge werden.

Es ist ja geradezu grotesk, mit welch penetranter Intensität uns Spitzenpolitiker tagtäglich erklären, dass wir in beneidenswerter Sicherheit und im Wohlstand leben, es ist haarsträubend, wie Regierungsvertreter ein Machbarkeitsversprechen nach dem anderen abfeuern: Eurorettungsschirm, Friedenscorps in Mali, kürzere Wartezeiten in den Spitälern –, so als würden wir Bürger Europas heute nicht viel mehr unterwegs sein als noch unsere Eltern, und so als hätten wir auf unseren Reisen nicht überdeutlich vor Augen, wie uns Nordamerika und Asien technologisch und wirtschaftlich abhängen.

Man muss aber gar nicht so weit schauen. Jeder durchschnittliche Kinderspielplatz im Norden Europas bietet Kindern mehr als ein durchschnittlicher Kinderspielplatz in Österreich. Gegen jeden durchschnittlichen Schulbau in Nordeuropa stinken Österreichs Klassenzimmer ab wie ein Fiaker gegen ein Raumschiff.

In Dänemark werden Neuwagen, die nicht elektrisch betrieben werden, mit 200% besteuert. Die viel breiten Fahrradwege sind dort allesamt durch Gehsteigkanten markiert; sie werden eben nicht, wie im selbstgefälligen Wien, zu Lasten der Fußgänger auf die Gehsteige gepinselt.

Und so ließe sich diese Liste von sichtbaren Rückständen in Österreich über viele Seiten ziehen.

Das neue Jahr wird sicher kein einfaches Jahr. Die unbelehrbaren Linksradikalen dürften als lautstarker Nostalgiekult wiedererstehen, falls sich der kubanische Exdiktator Fidel Castro doch einmal entschließen sollte in das Tauchbad aus Glyzerin plus Chinin zu steigen, das auf ihn wartet [ich habe sein sozialistisches Ableben, welches den Tod Lenins gewiss noch übertreffen wird, allerdings schon einmal falsch vorhergesagt].

Griechenland steht in den kommenden Monaten am Scheideweg zwischen Bürgerkrieg und alkoholischem Massenausschank mit Tankwagen an jeder Straßenecke. Schon heute ist es ja das sprichwörtliche Phlegma der Griechen, das heißt ihre Lustlosigkeit und ihr Fatalismus, was die Massen vor Verzweiflungsgewalt bewahren, – und die berühmte Saudade etwas weiter westlich die Portugiesen.

Im neuen Jahr wird Slowenien seinen Staatsbankrott erklären müssen. Ein echter Treppenwitz der Geschichte, und kein schlechter dazu. Ich kann mich noch durchaus erinnern, dass der jugoslawische Selbstverwaltungssozialismus ja nicht nur wegen seines totalitären Charakters gestürzt wurde, sondern dass es, viel wichtiger noch, massive politische Sezessionsbestrebungen der beiden Teilrepubliken Slowenien und Kroatien gab. Wie im Italien der Lega Nord hatte auch am Balkan der etwas reichere Norden keine Lust mehr mit den schäbigen Brüdern im Süden zu teilen.

Ich habe nicht vergessen, dass der große Südtiroler Grünen-Politiker Alexander Langer [1946-95], ein Prophet des friedlichen Zusammenlebens in Europa, eben auch an dieser Perspektive politisch verzweifelt ist und seinem Leben ein Ende gesetzt hat.

Was haben wir denn historisch erlebt in den letzten beiden Jahrzehnten? Was müsste uns dringend zu denken geben, wenn heute im Nachbarland Ungarn demokratische Rechte in Salamitaktik beschnitten werden? Welche Zeichen stehen auf Sturm, wenn in Großbritannien, Frankreich und neuerdings auch in Deutschland unter dem Titel »Sozialtouristen« gegen die Ansiedelungsfreiheit von Roma in der Union kampagnisiert wird?

Müsste nicht der Jugendsprecher einer Partei als erster im Land sagen können, was in diesen Fällen nottut? Müssten die neugebackenen Volksvertreter den richtigen Weg für den europäischen Kontinent nicht in ihren Adern spüren, oder wenigstens in den Haarspitzen?

Ich sage es so: Wir haben in den letzten Jahrzehnten miterlebt, mit welch ungeheurer Kraft der ethische Säuberungswahn in der nahen und ferneren Nachbarschaft wiederkehrte, – von den schmerzlichen Geschwisterkriegen am Balkan bis hin zum coolen norwegischen Massenmörder, der seine Hinrichtungsschüsse auf wehrlose Ferienkinder mit dem iPod im Ohr synchronisierte.

Erst wenn du die Antwort auf dieses ewige ethno-nationale Fieber Europas kennst, Julian Schmid, hat sich meine Stimme gelohnt.

© Wolfgang Koch 2013

Foto: Martin Juen

 

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Vorläufige Warnungen an einen Jungpolitiker 2/10

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Lieber Julian Schmid,

ich bewundere deinen Mut außerordentlich, von der Universität hinüber ins Parlament zu wechseln, über die Lebensbaustelle Studium hinaus auch noch die Lebensbaustelle Politik  zu eröffnen. Denn was heisst das?

Es heißt aus einer Sphäre auszusteigen, in der Studierende nie auf die eigene Leistung vertrauen, sondern meinen, in der Ausbildung Glück oder Pech zu haben; und in eine Welt hinüber zu wechseln, in der ausnahmslos alle Akteure unter ihrer Erfolglosigkeit leiden, während sie zugleich vorgeben müssen, in der gesetzgeberischen oder kontrollierenden Arbeit überaus erfolgreich tätig zu sein, in ein Arbeitsgebiet also einzutreten, in dem der einzige wahre Erfolg des Politikers darin besteht, wieder zur Kanidatur aufgestellt und erneut gewählt zu werden.

Kurz: Du enterst ein Boot, in dem man die erfolgreiche Verteidigung seines Sitzes als ein Politikmachen auszugeben gezwungen ist, das so gar nicht existiert.

Sind Politiker und Politikerinnen deshalb heute in unseren Breiten so überaus unbeliebt? Sind sie deshalb die Buhleute der Nation, weil das Publikum einfach keine Lust mehr hat, an dieser Dauerkomödie der Demokratie mitzuwirken?

Es kann doch nicht nur ein unerkanntes, verborgenes Erbe der nationalsozialistischen Pöbel-Kultur in unseren Breiten sein, sage ich mir, dass man an jeder Ecke und in jeder Kolumne auf »die da oben« schimpft.

Ein gutes Beispiel für die allgemeine Politikerverdrossenheit war jene satirische Talksendung des ORF »Wir sind Kaiser«, in der du unlängst aufgetreten bist. Im Grund genommen haben dich die Kabarettisten dort ja nur eingeladen, um in einer Art Ritterspiel mit läppischen Witzchen über die politische Klasse als Ganzes herzufallen; nicht über das Handeln oder die Moral einzelner Volksvertreter, nein, sondern über die Politikmenschen insgesamt. 

Die Comedy putzte sich ab an ihrer Konkurrenz im Unterhaltungsgeschäft.

Du, lieber Julian, dientest in dieser Sendung als unverdorbenes und harmloses Gegenstück zum alteingessenen Parlamentarier, gleich welcher politischen Coleur; und entsprechend piepsmäusig fielen auch deine Antworten aus. Schließlich schienen die Angriffe auf die politische Nomenklatura ja nicht eigentlich dir zu gelten, sondern gestandenen Kerlen, die dem tagsüber fleißgen TV-Zuschauer angeblich nur auf der Tasche liegen.

Hätte sich ein stolzer und mutiger Republikaner so vor hunderttausenden Österreichern vorführen lassen? Hätte ein von der Notwendigkeit des Parlamentarismus überzeugter Demokrat sich für die billige Häme gegen den Interessenausgleich in Staat und Gesellschaft derart missbrauchen lassen?

Ich meine, nein. Gut, du bist jung! Die Dinge sind nicht immer nur entweder wahr oder falsch. Jeder in diesem Geschäft muss Kompromisse machen und sich vor Arroganz hüten.

Nur: die Beziehung von Politik und Medien verhält sich heute in der Regel genau umgekehrt zu dem, wie sie öffentlich dargestellt wird. Nicht die Medienleute sind die Getrieben, die Politikerinnen sind es – und je besser und williger sie in TV-Formaten auftreten, desto schlimmer machen sie die Sache.

Die tiefe Verachtung, die das Massenpublikum heute der Sphäre des Politischen entgegenbringt, hat seine Wurzeln also keineswegs nur in den 1930er-Jahren, als totalitäre Rattenfänger von links und rechts begannen, ihren Hass gegen »das System« und gegen den »Parteienstaat« zu verspritzen.

Nein, die tief eingefleischte Verachtung, die man der Politik und dem Politischen entgegenbringt, hängt genau damit zusammen, dass Politik in der Öffentlichkeit zu einem Unterhaltungselement unter anderen herabgesunken ist.

Erinnere dich an den Sex-Skandal in deiner Heimat Kärnten. Der österreichische Tagesboulevard war hin und weg, als ein Mandatar aus dem Team Stronach die Affaire seiner Frau mit dem Parteifreund und Landesrat Gerhard Köfler öffentlich machte.

Der ORF sendete vor der Nationalratswahl 2013 die komplett informationsfreien Aufzeichnungen von Autofahren mit Spitzenpolitikern durchs Land, bei denen sich die Kandidaten neben einem aufgeblasenen ORF-Redakteur aus dem Handschuhfach filmen ließen. Warum machen vernünftige Erwachsene, die eine Nation führen wollen, bei solchen Peinlichkeiten mit?

Weil ihnen Journalisten die Darstellung ihrer »menschlichen Seite« versprechen; weil sie denken, dass sie mit Witzchen und Grimassen jene Sympathiepunkte bei den Wählern wieder wettmachen können, die sie in der letzten Legislaturperiode mit Sachpolitik verspielen haben. Und haben denn nicht auch die Grünen mit dem passionierten Raucher und erklärten Donaldisten Alexander van der Bellen ein Jahrzehnt lang auf den Primat der Sympathiewerbung für ihre Bewegung gesetzt?

Ich denke, dass die enorme Entpolitisierung der Politik durch den Medienzirkus am meisten zu ihrem Ungemach beiträgt. Nur politisch besonders interessierte Menschen kriegen überhaupt mit, mit welcher Unverschämtheit die Parteien gerade wieder in die öffentlichen Kassen greifen.

Vier unserer Parteien, darunter deine, haben die Parteienförderung des Bundes in nur zwei Jahren von 15,3 Millionen Euro auf 36,1 Millionen Euro mehr als verdoppelt. Die Stadt Wien, in der die Grünen so ungeschickt wie möglich mitregieren, vergütet den Gemeideratsklubs sogar unbenutzte Büroräume mit 120 Euro pro Quadratmeter im Jahr.

Ist das nicht vollkommen absurd? Hier Rekordsummen bei der Parteien- und Klubforderung, und auf der anderen Seite steht dir, dem frischgebackenen Parlamentarier, nicht einmal ein eigenes Büro zur Verfügung?

Hast du die Öffentlichkeit nicht ungefragt wissen lassen, dass du Bud Spencer-Western liebst? Wo bleibt jetzt die »beidhändige Doppelbackpfeife« oder der »senkrechte Schlag mit der Faust auf den Kopf«, um den Neustart der Politik in diesem Land zu befördern?

 © Wolfgang Koch 2014

Foto: Martin Juen

 

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Vorläufige Warnungen an einen Jungpolitiker 3/10

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Lieber Julian Schmid,

die Politik gleicht heute über weite Gebiete einem Palimpsest, das immer nur von wenigen verstanden werden kann. Gestern zum Beispiel erklärte der iranische Außenminister Mohammed Jawad Zarif am Rande einer Münchner Sicherheitskonferenz, der Holocaust sei »eine grausame Tragödie des Umbringens« gewesen, was der Weltöffentlichkeit sofort als politische Sensation übermittelt wurde.

Ich nennen diese Worte: eine Verharmlosung. Der Holocaust fand ja keineswegs auf einer Bühne vor Zuschauern statt; er war ein Massenmord von durchaus normalen Menschen an durchaus gewöhnlichen Menschen mit industriellen Methoden. An diesem beunruhigenden Faktum zielt Zarifs plumpe Theaterkritiker-Sprache weit vorbei.

Der iranische Minister untermauerte mit dem Sager ja auch nur die gegenwärtige Annäherungsbereitschaft des Iran an den Westen, und er distanzierte sich mit der Verurteilung der »Tragödie« von seinem innenpolitischen Gegner, dem vormaligen iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad.

In diesem völlig abgehobenen Stil führen heute Politiker aller Lager und aller Fachrichtungen Debatten, die sich nicht mit Realitäten beschäftigen, sondern aktuelle Machtkonstellationen zu beeinflussen versuchen. Es geht darum, den Gegner psychologisch unter Druck zu setzen, Terrain zu gewinnen und Lebenszeichen an die eigenen Anhänger zu senden.

Dass Politik dabei zu einer wahre Gehörlosenrepubik verkommt, zu einem hohlen Gebilde abgedroschener Worte, können die Akteure dann nur mehr bedauernd feststellen.

Der Jänner. lieber Julian, ist sicher kein guter Monat für dich gewesen. Sämtliche Themen wurden von Protest gegen den Akademikerball in der Wiener Hofburg überschattet. In diesem Konflikt warst du als neuer Jugendsprecher deiner Partei nahezu völlig abgemeldet.

Die Auseinandersetzung mit der Jugendorganisation hat die Parteispitze sofort an sich gezogen. In den heftigen öffentlichen Debatten kam nur ein einziges bescheidenes Wort von dir über die Rampe: »Dumm« sei der Gewaltexzess der militanten Demonstranten in der Ballnacht gewesen; »dumm« der Schwarze Block, als er Explosivkörper gegen Polizistinnen schleuderte, »dumm« der Angriff von autonomen Antifaschisten auf eine Polizeistation in der Wiener Innenstadt.

Junge Grüne und Jungsozialdemokraten haben sich nur  widerstrebend vom gewaltbereiten Milieu linksaußen distanziert. Die Grünen haben, wie wir jetzt wissen, im Vorfeld den Knallköpfen mit einer Domain sogar propagandistisch unter die Arme gegriffen. Die Anarchisten-Parole »Unseren Hass könnt ihr haben« wollen deine Alterskollegen bei den Grünen bis heute dahin gedeutet sehen, »dass wir unseren Hass nicht benötigen, um uns artikulieren zu können; die FPÖ und die Burschenschaften bauen jedoch ihre Politik und ihr Weltbild darauf auf«.

Ein kaum zu entwirrendes Palimpsest, ein heftiges Aneinandervorbeireden, immer nur die eigene Klientel im Blick. Das Kalkül der Linksradikalen war klar: Je medial auffälliger die Proteste gegen das »unappetliche Pack der Burschenschaften« ausfallen würden, desto verzagter werde die Hofburg-Betreibergesellschaft ihre Säle im folgenden Jahr an die Ballveranstalter vermieten.

Also brüllten sich 7.000 Gegner in der Wiener Innenstadt heiser, als wäre der Akademikerball ein europäisches Vernetzungstreffen von Kellernazis. Das war gewiss dumm. Vor allem aber argumentierten auch die gewaltfreien Demonstranten unredlich, indem sie behaupten, die Hofburg sei ein besonders symbolträchtiger Ort.

Deine Parteivorsitzende, Eva Glawischnig-Piesczek, hat der FPÖ vorgeschlagen, die 500 tanzwütigen Anhänger doch irgendwo in einem Saal in Ottakring zu versammeln; und der vielbeachtete Leitkolumnist der Tageszeitung Der Standard, Hans Rauscher, schlug dem Polizeipräsidenten vor, die Veranstaltung doch in eine Sporthalle der Wiener Polizei zu verlegen, um das Problem der Sicherheitszone aus der Welt zu schaffen.

Auf diese sarkastische und unehrliche Weise verteidigen heute die Republikaner und Demokraten die Versammlungsfreiheit für Andersdenkende, oder besser: sie verteidigen sie gerade nicht, sie machen diese Grundrecht mit den Staatsorganen zugleich lächerlich.

Das ist in meinen Augen noch viel dümmer, als das, was du als »dumm« bezeichnet hast, nämlich Polizisten mit Steinen, Krachern und Stangen zu attackieren. Es ist dümmer, weil da aus einer einflussreichen Position heraus politisch fahrlässig und moralisch hinterfotzig gespochen wird.

Welche Emblematik ist denn bitte so besonders schützenswert an der Wiener Hofburg? Dass der Bundespräsident im Leopoldinischen Schlosstrakt seine Amtsgeschäfte tätigt? Dass sich das österreichische Volk 1848 in der Winterreitschule seine erste und erfolglose Verfassung gegeben hat? Dass das Parlament wegen Umbauarbeiten dort ein Ersatzquartier beziehen wird?

Lächerlich. Die Wiener Hofburg ist das überragende Symbol der gestürzten Habsburger-Monarchie. Frage bitte einen einzigen jener Touristen, die dort Tag für Tag zu Hunderten herumlaufen, wofür denn diese Ballung von Prunk- und Museumsbauten steht? Für den letzten Glanz der Monarchie steht sie, und der Heldenplatz für den propagandistischen Vollzug des österreichischen Anschlusses an Deutschland 1938, für sonst nichts.

Was sich an dieser Symbolik mit dem Akademikerball nicht vertragen soll, das müssen uns die Ballgegner bitte erst mal erklären.

Egal, ob wir uns das politische Raumschema nun als Gerade, als U-Form oder als Kreis vorstellen, niemand entkommt in der Politik dem Problem, dass er sich ideologisch nach zwei Seiten abgrenzen muss: nach links und nach rechts. Was aber bedeutet die schöne »Abgrenzung von der Gewalt«, wenn der aus der SPÖ kommende Bundespräsident Heinz Fischer die FPÖ zugleich auffordert, den Ball nächstes Jahr aus Sicherheitsgründen an einen anderen Ort zu verlegen?

Es bedeutet, dass sich der Bundespräsident die zertrümmerten Schaufensterscheiben perfide zunutze macht, dass er mit dem Schwarzen Block argumentiert, statt sich den Gewalttätern entgegen zu stellen und die Versammlungsfreiheit zu verteidigen.

Die Parlamentsgrünen, deren Fraktion du angehörst, haben einen noch größten rhetorischen Aufwand betrieben, um den Gewaltexzess zu verteufeln. Gut! Doch in derselben Woche, als diese Niederwerfung vor dem großen Publikum in Wien stattfand, da haben die Grünen mit 11.726 Stimmen den französischen Bauernaktivisten José Bové zum ihrem Spitzenkandidaten für die Eurowahlen nominiert.

Der militante Globalisierungsgegner Bové, der stets im Habitus des rauflustigen Straßenkämpfers auftritt, wurde im Jahr 2000 rechtskräftig wegen Demolierung einer Mc-Donalds-Filiale in Millau zu drei Monaten Gefängnis verurteilt.

Vielleicht kannst du mir als cooler Jugendsprecher der österreichischen Grünen bei Gelegenheit mal erklären, worin genau der moralische und der strafrechtliche Unterschied liegt zwischen einer zerstörten Mc-Donald’s-Filiale und der »dummen« Randale des Schwarzen Blocks am Wiener Graben?

© Wolfgang Koch 2014

Foto: Martin Juen

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Heiteres aus den Wiener Öffis: Kinderszenen

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Zu den gelungensten Einrichtungen der österreichischen Tageszeitung ›Der Standard‹ gehört das lebendige Leser-Forum dieses Blattes. Hier haben in den letzten Tagen überwiegend jüngere User hunderte heitere Fahrgast-Anekdoten zusammengetragen und kommentiert.

Im Folgenden eine Auswahl sprachlich bearbeiteter Geschichten, die alle möglichen Zwischenfälle und den wohl einzigartigen Wiener Volkssport des Deppertmeldens zum Gegenstand haben.

Die Linien der Straßenbahn (in Wien: der Bim, veraltet: Tram oder Tramway) werden traditionell mit Buchstaben oder Zahlen bezeichnet und sind allesamt männlich: also »der 33er«, »der J«, etc. Das Gleiche gilt für Buslinien: »der 14A«, etc. U- und Schnellbahnen hingegen sind grundsätzlich weiblich: also »die U3«, »die S 45«, etc.

Der Wahrheitsgehalt der hier dokumentierten Erlebnisse lässt sich genauso wenig beweisen, wie umgekehrt niemand in Abrede stellen wird, dass der Öffentliche Personennahverkehr in Wien eine nie versiegende Quelle von Situationskomik ist.

DIE KINDER

Schön sprechen. Im 46er in der Lerchenfelderstraße spielt eine Fünfjährige am Fenster. »Samanta«, befiehlt ihre Mutter, »sitz di hi!« – Tochter: »Hääh?« – Mutter, erbost: »Des hasst ned ›Hääh?‹, des hasst ›Wos?‹«.

Wiener Charme. Der 10A in der abendlichen Hauptverkehrszeit, der Passagierraum zum Bersten voll. In der Ottakringerstraße wartet auch noch eine Mutter mit Kinderwagen an der Haltestelle. Der Busfahrer murmelt vor sich hin: »Kennan de Wappla hinten der ned Plotz mochn?« – Eine ältere Dame, auf das Mikrophon deutend: »Des miassens do rein sogen!« – Er: »Stimmt! … Könnts es Wappla ned der Frau Plotz mochn?« – Tatsächlich steigen vier Jugendliche aus, bugsieren die Frau mit dem Kinderwagen hinein und bleiben dann gezwungenermaßen an der Haltestelle zurück. – Der Fahrer beim Wegfahren: »Kennt i öfta mochn«.

§ 107 Abs. 1 StGB. In einem Linienbus entspinnt sich ein Streit über den Sitzplatz eines Kleinkinds. »Ruhe! Sie haben mir nicht zu widersprechen!!!«, ruft der eine Herr. – »Sie mir auch nicht«, erwidert der Begleiter des Kindes. – »Schluss jetzt! Sonst gebe ich Ihnen eine Ohrfeige!«, droht der Empörte. – Der Bedrohte, seelenruhig und offenbar juristisch versiert: »Ich bin von Unruhe und Furcht erfüllt«.

Fürs Fotoalbum. Am Karlsplatz wirft sich ein Junge im Schulkindalter heulend zu Boden, weil er offenbar etwas Gewünschtes nicht bekommen hat. Anstatt mit ihm zu schimpfen, zücken die Eltern eine Kamera, richten die Linse auf ihn und knipsen lachend eine Aufnahme für die Ewigkeit.

Der Lernschritt. In der U4 verbietet eine Mutter ihrem zirka fünfjährigen Sohn, sein Nase an die Fensterscheibe zu drücken, worauf der sich mit den Worten »Blöder Mama, blöder Mama« abreagiert. – Sie: »Wie oft soll ich dir das noch sagen? Das heißt nicht ›blöder Mama‹, das heißt ›blöde Mama‹!«

Der Fremdenführer. Ein Vorschulkind beweist im J-Wagen am Ring seine exzellenten Wienkenntnisse. Das Naturhistorische Museum passierend: »Da drinnen wohnen die Steinzeitmenschen«, und einen Augenblick später am historistischen Parlamentsgebäude von Theophil Hansen: »…und da die Römer«.

Der Gattungsname. In der U3 mustert ein Kleinkind argwöhnisch den gegenübersitzenden Mann, zeigt schließlich mit dem Finger auf ihn und verkündet lautstark: »Papa!« – »Nicht dass ich wüsste«, erklärt der Mann bedauernd, und grinst die dazugehörige Mutter an.

English spoken? In der S-Bahn berichtet ein Vierjähriger seiner SMS tippenden Mama in breitem Wiener Dialekt, was er heute im Kindergarten mit einem neuen Kameraden namens Jason alles erlebt hat. Irgendwann blickt sie vom Mobiltelefon hoch, runzelt die Stirn und sagt: »Hearst, wos redst du eigentlich fia an Bledsinn!? A Tschesn is a oids Auto – wos hot des mit deim Kindagoatn ztuan?«

Junk-Food. Eine vierköpfige Familie steigt zur Mittagszeit in den 13A, nimmt Platz in der hintersten Reihe, jeder der Vier einen in Alufolie gepackten Kebab in der Hand. Während sie ihr Essen auszupacken beginnen, unterhalten sich die Kinder in angeregtem Tonfall. Die Mutter fährt streng dazwischen: »Jetzt seid’s aber amal ruhig, mia tuan jetzt Mittagessen!«

Sommerhitze. Ein Bauarbeiter mit starker Körperbehaarung steigt im Unterhemd in die U-Bahn. Ungläubig wird er von einem Kleinkind beobachtet, bis es sich nach Minuten einen Reim darauf machen kann und sagt: »Papa… ich glaub’ da sitzt ein Affe in der U-Bahn!«

© Wolfgang Koch 2014

 

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Heiteres aus den Wiener Öffis: Fahrscheine, Sandler, Migranten

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Happend, or not? Beim Schwarzfahren von einer etwa 25jährigen Kontrollorin erwischt, bittet ein junger Mann rasch um den Zahlschein, weil er es unglaublich eilig hat. 15 Sekunden später drückt sie ihm den Wisch in die Hand, darauf: ihre Mobilnummer.

Ein Wintermärchen. Am 23. Dezember im 13A ohne Fahrschein. Der ertappte  junge Mann erklärt dem Kontrollor freundlich, dass er mit ihm aussteigen und die Strafe sportlich begleiche werde. »Da hinten is a Automat«, sagt der Kontrolleur. Der junge Mann wiederholt, dass er widerstandslos aussteigen und seine Schuld begleichen wolle. »Hearst«, herrscht ihn das Kontrollorgan nun an, »i hob da gsagt, du sollst da hinten im Bus um zwa Euro an Fahrschein kaufn und ihn mir zagn. Es is Weihnachten!«

Magisches Dreieck. Zwei Freundin im D-Wagen. »Du, ich hab aber keinen Fahrschein«, sagt die eine. Worauf ihre Freundin abwinkt: »Geh, wir fahren eh nur kurz, da brauchst keinen«. Als doch eine Kontrolle stattfindet, zückt selbige ihre Jahreskarte. Die andere deutet einfach zu ihr hin und erklärt: »Sie hot gsogt, i brauch kann«. Dem Kontrollor entfährt ein »Ahso«, und er geht weiter.

Favoritener Humor. Ein junger Zivilist steigt in die 6er-Bim Richtung Burggasse und verkündet lauthals: »Tag, die Fahrscheine bitte!« – Alle Fahrgäste beginnen sofort, ihre Berechtigungsdokumente herauszukramen. Bei diesem Anblick bekommt der Typ einen Lachanfall. »Naa, woa a Schmäh. Schau i aus wia a Schworzkappla?«

Wegen Dummheit. Bei einer Fahrkartenkontrolle in der Bim hat schon der erste zu Kontrollierende kein Ticket. »Haben’S an Ausweis?« – »Na, i zahl’ glei bar. Können’s wechseln?« Während die Strafgebühr eingehoben wird, fährt die Bahn in eine Station ein u. auch wieder aus. Als nun der erste Schwarzfahrer abgehandelt ist, erhob die Dame wieder ihre Stimme: »Fahrkartenkontrolle! Wer jetzt ned ausgstiegen is, ghört gstroft«.

DIE SANDLER

Morgenstunde. Am 3. Tor des Zentrafriedhofs steigen nur wenige Leute in die 6er-Bim zu. Hinten brütet ein Sandler in einer gewaltigen Sliwowitz-Fahne. Im 10. Bezirk fällt wiederholt die Beleuchtung im Wagen aus. Als die Lampen erneut zu flackern beginnen, plärrt der Alte nach vorne zum Fahrer: »Heast, wonst di no long spüst mim Liacht, gibt’s haße Ohrwaschln!«

Wechselkurs. Im Abgang zur U4 am Margaretengürtel reckt ein Bettler den Fahrgästen den berühmten Pappbecher entgegen: »Heast, kannst ma an Cent wechseln?« – Dass er ihm den freundlichen Gefallen zu machen versucht, endet für einen jungen Mann damit, dass er amüsiert und 49 Cent ärmer den Weg fortsetzt.

Lebenserfahrung. Schnellbahn-Station Südtirolerplatz. Zwei Schulfreund fahren auf einer Rolltreppe abwärts, einer davon mit starken Bauchschmerzen. Als er sich schmerzverkrümmt nach vorne beugt, ruft eine Sandlerin: »Nur ned scheißn, nur ned scheißn …«

Am Heimweg. Nach einem ausgiebigen Praterrundgang sucht eine Mutter auf der Lände dringend ein stilles Örtchen. Es bietet sich nichts an außer einer kleine Tankstelle. Sie wendet sich an zwei Tankler, die dort an der Theke stehen: »Entschuldigen Sie, gibt’s hier vielleicht eine Toilette?« – »Wos wolln’S!«, antwortet der größere der beiden Gentleman, »de gonze Wöd is a Scheißhaus!«

DIE MIGRANTEN

Die Bekräftigung. Eine junge Frau telefoniert angeregt in der U-Bahn. Da der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen vom Gesprächspartner offenbar infrage gestellt wird, sieht sie sich genötigt sah, ihre Aussagen deutlich zu untermauern: »Eh, ich schwör’, bei Kebab!«

Peinlich berührt. Ein erst kürzlich vom Land nach Wien gezogener Mann steigt morgens schlaftrunken in die Bim, um sich zur Arbeit zu begeben. Dabei entschlüpft seinem Mund ein unbeabsichtigtes, in der Großstadt vollkommen unübliches »Guten Morgen!« Zu seiner bis heute anhaltenden Verblüffung hallen etliche »Morgen!« zurück.

Antirassismus in der U4. Eine betagtere Dame sitzt neben einem farbigen Fahrgast auf einer Doppelbank. Zwei Stationen weiter steigt ein weiterer Farbiger ein, der mit dem anderen nichts zu tun hat. Die Dame erhebt sich und sagt zum Zugestiegenen: »Bitte, setzen sie sich zu ihrem Freund!« … was der grinsend auch tut.

Akrobatische Drohung. In der U4 eskaliert der Streit von zwei etwa achtjährige Jungen: »Haltest du Gosche, sonst kriegst du Watsche. Mit Fuss«.

 © Wolfgang Koch 2014

 

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Heiteres aus den Wiener Öffis: Touristen, Schirme, Handys

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Wahre Kenner. Als zwei junge Städtetouristinnen in der U6 über den Gürtel reisend plötzlich der künstlerisch verspielten Fassade der Müllverbrennungsanlage Spittelau ansichtig werden, wenden sie sich fragen an die Mitpassagiere. Was soll das denn sein? Ein UFO? Ein Vergnügungspark? Ein Kulissendepot? Endlich erbarmt sich eine Wiener Öffi-Nutzerin und orientiert die staunenden Fremden: »Das Hundertwasserhaus«.

Landstraße/ Hauptstraße. Ein sichtlich genervter Besucher aus der österreichischen Provinz fragt die Passagiere recht unwirsch, in den Waggon welcher U-Bahnlinie er gerade gesprungen sei. Als er erfahren muss, dass er sich nicht in einer U-Bahn, sondern in der Schnellbahn befindet, erntet die Anwesenden ein beherztes: »Scheiß Wean!«

Rosa Strähnchen. U1 Praterstern. Ein schwitzender Jogger, direkt von seiner Laufstrecke in der Hauptallee hereingesprungen, nimmt gegenüber zwei Kuschelpunks Platz. Als die beiden wild herumzuknutschen beginnen, kommt es zu folgender denkwürdiger Warnung: »Kinda, i hob mi heite a bissl überanstrengt. Wenn’s ned aufheats zu schmusen, speib i mi fix an!«

Drei Uhr früh. U3-Station Neubaugasse, ein Nachtbummler schaut sich verstohlen um, ob eine Überwachungskamera auf ihn herabblickt. Als er beruhigt das Feuerzeug aus der Tasche fischt, knackt es in den Stationslautsprechern und eine freundliche Frauenstimme sagt: »Junger Herr! In der Station ist das Rauchen nicht gestattet! Der nächste Zug kommt erst in 13 Minuten. Das reicht locker zum Raus- und Reingehen!«

Am falschen Fuß. 7:30 Uhr am Morgen, Bim in der Taborstraße. Eine sehr hübsche, modisch gekleidete Endzwanzigerin zückt ihr iPhone und beginnt laut und näselnd ein Telefonat: »Ich bin’s, die Manuela! … Stell dir vor, die Michi hat ein Brunching g’macht … Ein Brunching … Lachs, ja, Rindsroulade, … so liieeb!« – Da unterbricht sie unerwartet die Stimmes eines unscheinbaren Herrn: »Du, Manuela! …« – Die  hübsche Endzwanzigerin wendet verblüfft den Kopf: »Ja, bitte?« – Der Monsieur: »Manuela, hoid afoch de Pappn!«

Schimpfkonzert. Ausfall der U6 wegen Hitzestörung bei 37 Grad Celsius. Alle Fahrgäste watscheln zum Schienenersatzverkehr. Unmutsbekündungen in der gerüttelt vollen Bim. Eine Seniorin stampft mit dem Stock auf und zettert: »Aussteign! I hob kan Plotz!« – Viele sehen sich gefrotzelt. »Heast, Muadal, host wos auf die Augn? Do is ka Plotz …« … »De Oidn, nix zam tuan, imma an Stress« – Nach einigem Gemaule und Gegengemaule bückt sich ein großgewachsener Türke zur Omi hinunter und sagt: »Is urscheiße, wenn olle gegn an san, stimmts?«

Rote Ohren. Zwei 17jährige im 41er Richtung Schottentor. Eine ziemlich hübsche Frau mit Schäferhund steigt ein, setzt sich auf eine freie Bank. Der Hund kriecht unter ihren knöchellangen Rock, um es sich unter den Beinen bequem zu machen. Einer der Burschen, halblaut: »Der wär i a gern!« – Natürlich hört sie das, dreht sich um und sagt schnippisch: »Der is’ aber kastriert«.

Beschleunigung. Endstation Pötzleinsdorf, zwei Bim-Garnituren stehen hintereinander zur Abfahrt bereit. Der Fahrer des vorderen Zugs steht neben der Tür und raucht eine Zigarette, als plötzlich ein Mann auf ihn zustürmt und zu wissen begehrt: »Welche fährt denn zuerst?«

Fitness. U6-Station Floridsdorf. Die Türen des Waggons schließen, in letzter Sekunde steckt eine Dame noch die Spitze ihres Regenschirms ins Innere. Die Tür bleibt aber zu. Grantige Durchsage des Fahrers: »Nau, wos tamma jetzt? Auhoidn und mitrenna?!«

Telefonitis. »Du, ich bin jetzt bei der Neubau… ja, fahrt grad los, jetzt wird’s schon dunkel, wo stehst denn du, vorne oder hinten?… ja, oje!… ich sitz nämlich hinten, kommst du nach hinten?… damit ich nicht nach vorn muss… i seh’ di schon!…  siehst du mi a?… jaaa, wir sehen uns. Du ich leg’ jetzt auf, weil wir uns schon sehen«.

Geheadbanged. Abends im Bus 62A. Ein Passagier mit Kopfhörern bleibt neben dem Fahrersitz stehen, weil er gleich wieder raus muss. Aus den Augenwinkeln kann er erkennen, dass sich der Fahrer zu ihm hindreht und etwas in seine Heavy-Metal-Wolke hinein sagt. »Tschuldigung«, antwortet er in der Annahme, dass der Sound die Ohren anderer stört, »i mach’s schon leiser«. – »Na, lauter!«, brüllt der Fahrer.

© Wolfgang Koch 2014

 

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Heiteres aus den Wiener Öffis: Durchsagen, Personal

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Zug fährt ein. U3-Station Schweglerstraße, eine ältere Dame steht sehr knapp an der gelben Linie zum Geleis. Lautsprecher: »Bitte treten Sie hinter die gelbe Linie zurück!« Da sich die Dame nicht rührt, tönt es aus dem Lautsprecher erneut: »Die ältere Dame mit dem grauen Mantel, bitte hinter die gelllbe Llllinie zurücktreten, Zug fährt ein«. Keine Reaktion. Nun geht die Stimme in Brüllen über: »Hearst, Oide! An Meter viere oder zwa zruck!«

Gelasssenheit. U6 am morgendlichen Weg zur Arbeit. Warnton, Türen schließen, doch der Zug fährt nicht los. Nochmaliger Warnton, wieder nichts. Durchsage des Fahrers: »Bitte den Türbereich freihalten, damit die Türen schließen können«. Dritter Versuch; nach dem vierten meldet sich der Fahrer so: »Mir is wurscht. I bin scho in da Hockn …«

Der Vergleich. Eine Dame keppelt während der Fahrt mit dem Bim-Fahrer und drückt erst in der Station den Halteknopf, woraufhin der Fahrer allerdings die Türen schließt und mit den Worten wieder anfährt: »Schauns gnädige Frau, des is wia bam Scheißen. Wann’S net druckn wiad des nix«.

Der Frauenhasser. Ein hagerer Dreissigjähriger stürmt in die U4 und brüllt: »Olle Fraun san Hurn!« Schülerinnen kichern und tuscheln. Den Einwand aus dem Kreis der Passagiere, dass ja auch seine Mutter eine Frau sei, beantwortet der Kerl mit: »Mei Mutta is ka Hur«. – Beim Aussteigen in der nächsten Station muss er ausgerechnet einer schmucken Dame im Pelz Platz machen. Die hochgewachsene Blondine blickt ihn an und verdreht gleich die Augen. Der Mann wendet sich auf der Straße um und brüllt zurück in den Waggon: »Dich krieg’ i a noch!«

Die Hetzjagd. Die Franz-Josephs-Bahn hält kurz nach der Stadtgrenze. Nach bangen Minuten die Durchsage: »Dieser Zug kann vorübergehend nicht weiterfahren, da sich eine Person auf den Gleiskörpern befindet und diese erst eingefangen werden muss«.

Das Herbst-Assessoire. In der U6-Station Floridsdorf schließen zischend die Waggontüren. In buchstäblich letzter Sekunde fährt eine Dame mit der Spitze ihres Regenschirms dazwischen. Doch die betroffenen Türflügel bleiben um das gute Stück herum fest verschlossen. Grantelnd der Fahrer via Mikrophon: »Nau, wos tamma jetzt? Auhoidn und mitrenna?!«

Falsche Station. In der U6 Richtung Siebenhirten sagt die Lautsprecherstimme die Stationen zu früh an. Bei der Ankündigung »Michelbeuern – Allgemeines Krankenhaus« japst ein auf diese Ansage konditionierter Dackel begeistert hoch. Seine Besitzerin kann ihn nur mühsam an der Leine zurückhalten und hat die größte Mühe, dem Tier den Maschinenfehler zu erklären.

WIENER LINIEN

Verkehrslogik. Eine betagte Frau quert die Straße am Zebrastreifen äußerst langsam. Der Busfahrer öffnet das Fenster und schreit: »Heast Oma, zah on, sonst wird a Wohnung frei«.

Der Blitzkneiser. Der 13A-Bus Richtung Zentralbahnhof steht wieder einmal in der Kolonne. Plötzlich schert der Fahrer bei der Strozzigasse auf die Lerchenfelderstraße aus, düst zur Zweierlinie hinunter, steuert über den Getreidemarkt auf die Wienzeile und schwenkt erst bei der Pilgramgasse wieder auf seinen Kurs ein. Lange Gesichter bei jenen Fahrgästen, die nun in die Gegenrichtung ein oder mehrere Stationen zurück müssen. Der Chauffeur einsilbig: »Da is Stau, hab’ ihn umfahren«.

Der Sylvesterabend. Ein Bus voll mit fröhlichen Feiernden in Richtung der Jugendlokale am Gürtel; der Lenker kocht innerlich, weil er ausgerechnet zu dieser stimmungsvollen Stunde Dienst schieben muss. Als sich die Türen öffnen und die Spaßwütigen in Umarmungen davon taumeln, schaltet der Bedienstete die Außensprechanlage an und brüllt verzweifelt ins Mikro: »Ihr tut’s mir alle leid!»

© Wolfgang Koch 2014

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Heiteres aus den Wiener Öffis: Taschentücher, Odyseen

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Taschentuch. U-Bahnlinie U1, eine junge Frau um die Zwanzig weint herzzerreißend. Die Fahrgäste beobachten sie peinlich berührt, bis ihr einer zaghaft ein Taschentuch reicht. Als sie kurz auflächelt, verkündet eine Stimme: »Gott sei Dank, sie lacht wieder!«

Noch ein Taschentuch. In einer U1-Garnitur sitzt ein Mann mit einer leicht verletzten Hand. An der offenen Wunde schimmert das Blut. Die gegenübersitzende Dame hält den Anblick nicht aus, zieht ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und überreicht es dem Mann mit den Worten: »Bitte, ich steig eh gleich aus«.

Eigenberechtigung. Zwei alkoholisierte Männer mittleren Alters stehen in der Tür der Bim am Tandlerplatz. Sie öffnen ihre Hosenlatze und pinkeln in hohen Bogen hinaus auf den Gehsteig. Der eine zum andern: »Wos is? Sollns sich ned beschwern, besser aussebrunzn als eine! Wenn ich Lulu muss, muss i lulu«.

Homer 2009. Im Bus 68A auf der Fahrt von Urselbrunnengasse zum Reumannplatz. Zwei nervöse junge Männer tauschen Geschichten aus. »Heast, erzähl ich dir a Geschicht, die is super!« – »Ja, Olda«. – »A Vata hat drei Söhne, den ältesten, einen mittleren und den dritten, verstehst?« – »Ja, drei«. – »Der älteste fladert immer Geld, der mittlere a«. – »Ja, und ?« – »Da Vater ruft seine Söhne zum Bett, weil er stirbt, sagt zum Ältesten, du kriegst Wohnung, da Mittlere kriegt Auto und Geld« – »Und was der dritte Sohn?« – »Jetzt wird’s voll spannend. Der Ditte sagt: Musst ma nix geben Vater«. Der schaut ihn an u. stirbt«. – »Hearst, bist deppert! I hear dir a Stund zua, Olda, des is ka Geschicht!«

Der Zwischenfall. Knallvoller U3-Waggon. Im Einstiegsbereich steht ein älteres Ehepaar mit einem riesigen Koffer. Beim Versuch das Ding aus der Bahn zu hieven, reißt der Henkel mit einem lauten Knall ab. Alle Leute schauen erschrocken, nur ein Mann meint seelenruhig: »Na, hams zwenig einpackt?«

Zug fährt ab. Jemand verpasst den U-Bahn-Anschluss, die Türen schließen, vor der Nase weg ist der Zug. Ein mitfühlendes Mütterlein am Gehstock: »Beim Scheißen soi’s der Blitz treffn, de Hua!«

© Wolfgang Koch 2014

 

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Warum gibt es in Wien kein Karl-Kraus-Denkmal?

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Ich melde mich seit Monaten kaum mehr aus der ehemaligen k.u.k. Residenzstadt, und das hat einen, wie ich meine, sehr triftigen Grund. Seit Jahrzehnten schon lag das geistige und kulturelle Leben in Wien nicht mehr so darnieder wie in diesem Jahr 2014.

Dabei hat alles ja durchaus vielversprechend begonnen. Medien, Politik und Universitäten kündigten im letzten Winter an, sich sämtlichen Aspekten des Anniversariums von 1914 zu stellen. Die Mutterkatastrophe aller Verwerfungen des 20. Jahrhunderts sollte ehrlich und offen analysiert werden, und die 18 Millionen Toten des Ersten Weltkrieges ein würdiges Andenken erhalten.

Und während zum Beispiel Prag nicht ein einziges Symposium zu diesem Thema veranstaltete, während sich Prag geradezu schamlos jedes erreichbaren Monarchieklamauks bedient, um Touristen zu unterhalten, standen in Wien allerlei akademische Veranstaltungen und Ausstellungen, Filmreihen und Festreden am Kalender.

Freilich herausgekommen ist bei all diesen Meetings und Konferenzen und Zeitungsbeilagen so gut wie nichts Neues. Das Weltmuseum am Heldenplatz widmet sich ausgerechnet den Weltreisen des 1914 spektakulär ermordeten Thronfolgers Franz Ferdinand. Die österreichische Boulevardpresse enchauffierte sich tagelang darüber, dass man in Serbien offen seines Mörders als einen Freiheitshelden gedachte. Ansonsten: Phrasen und die ewigen Plattitüden vom »Hineinschlittern« der Großväterwelt in das Blutbad der Nationen.

Der Schriftsteller Julian Schutting diagostizierte das 1914 »längst mumifizierte Herz des greisen Kaisers«;  Ex-Stadtwolf Alfred Zellinger twittere hundert Textschnipsel aus »Die letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus aus der Galaxy-Sitzgruppe in seiner Wasserbibliothek.

Warum sich seine k.u k. Apostolinische Majestät, Kaiser Franz Joseph, am 28. Juli 1914 aber überhaupt zur »Allerhöchsten Entschließung« der Kriegserklärung an Serbien veranlasst sah, das bleibt den Österreichern weiterhin so verschlossen wie die Riesending-Schachthöhle im Untersberg.

Wir wissen nach der Welle von Beilagen und Reprints jetzt zwar, was der französische Sozialist und Kriegsgegner Jean Jaurès unmittelbar vor seiner Ermordung machte (das Bild einer jungen Frau betrachten); wir wissen nun, dass auch in Palästina 1915 österreichisch-ungarische Soldaten zum Einsatz kamen, – aber über solches brave Zeitungswissen hinaus gelangte der Diskurs praktisch nirgends.

Bis heute muss die epochale Studie Rites of Spring: The Great War and the Birth of the Modern Age von Modris Eksteins als unübertroffenes Werk zum Thema Erster Weltkrieg gelten. An dem 1989 erschienen Band hatte der kanadische Historiker acht Jahre lang gearbeitet. Zum Vergleich: gegenwärtige Kapazitäten der Kriegsgeschichte wie Herfried Münkler schieben alle sechs Monate ein neues Werk auf den Buchmarkt.

Während des Ersten Weltkriegs gab es eine heute praktisch vergessene Emigrationswelle von Kriegsgegnern in die Schweiz. Der junge Ernst Bloch zählte zu den Flüchtlingen aus der schweren Zeit, Walter Benjamin, Hugo Ball. Die Freie Zeitung, von Deutschen in der Schweiz geleitet und geschrieben, beschäftigte sich ausschließlich mit der Kriegspolitik. Die Kriegsschuldfrage stand im Mittelpunkt der Beiträge, und ihr Niveau übertraf locker die heutigen Diskussionen, die alle Schuld an diesem Krieg abwechselnd einer undurchschaubaren Komplexität der Verhältnisse oder Großmachtinteressen zuschreiben.

Aus der Mitte dieser pazifistischen Emigranten in der Schweiz entstand auch die bis beute wichtigste Schrift zum Ersten Weltkrieg aus der Feder eines Österreichers, nämlich Siegfried Fleschs großartige Analyse Oestereichs Stellung in Europa. Dieses kluge Buch wurde 1918 in Lausanne gedruckt und es hat bis heute keine zweite Auflage erlebt. Schon gar nicht im schläfrig, bei aller luftigen Aktivität vor sich hindösenden Österreich.

© Wolfgang Koch 2014

 

 

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Erste technische Innovation des Jahres: der KD-L47

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Am heutigen Tag vor genau einem Jahr, am 2. August 2013, erschien in der Rubrik »Glückwünsche« der Süddeutschen Zeitung eine verblüffende Kundmachung: ein Unbekannter veröffentlichte unter dem Kürzel »AK« ein Kurzmanifest, so knapp mit Worten, dass es nur aus 35 Zeichen bestand:

»Art No Art? Ich gebe die Frage an den KD-L47 ab«.

Wer, fragte sich die kontinentale Kunstwelt für einen kurzen Augenblick, beglückwünschte sich da selber? Wer wollte die ewige Menschheitsfrage, was genau nun Kunst sei, und was Krempel oder Kitsch, an eine neue, technische Instanz delegieren?

War der KD-L47 ein Roboter, eine neue App fürs Mobiltelefon, ein Cyborg, eine Maschine? Handelte es sich wieder einmal um eine dieser vielen angeblichen »Durchbrüche« der KI-Forschung? Müsste das Logbuch der Gegenwart irgendwie umgeschrieben werden? Und womit?

Sicherlich fragte sich der Kunstbetrieb 2013 diese Dinge viel zu oberflächlich. Anderntags kehrte man zu den Routinen zurück, wandte sich wieder der Kunsteuphorie der herrschenden Finanzeliten zu.

Nun, exakt ein Jahr später, lüftet der in Wien und Bayern lebende Künstler und Software-Entwickler Alexander Nickl das Geheimnis der ominösen Anzeige.

Nickl, der im letzten Jahrzehnt mehr abseits des Kunstbetriebs ein ansehnliches Werk geschaffen hat, stellt in der nächsten Woche mit den KD-L47 den Prototyp einer Kunstprüfungs-App vor.

»Ursprünglich ist es mir darum gegangen, meinen eigenen Arbeitsprozess zu optimieren. Ich produziere laufend Mentagramme genannte Zeichungen, die dann das Ausgangsmaterial für Installationen, Interventionen und Projektionen im öffentlichen Raum bilden. Der KD-L47 sollte mir helfen, rascher herauszufinden, welche Mentagramme gelungen sind und welche nicht. Warum sollte dem Künstler die Gnade der Einsicht erst in Not, Verzweiflung und Einsamkeit ereilen? Gibt es denn keine technischen Möglichkeiten mehr, die Kunstproduktion digital zu rationalisieren?«

Aus dieser praktischen Fragestellung heraus ist innerhalb nur eines Jahres ein rechnergesteuertes Gerät entstanden, das mittels der Reflexionen einer elektromagnetischen Lichtwelle zu eindeutigen Ergebnissen führt. Interferenzen an Bildschichten stellen für den KD-L47 ebensowenig ein Problem dar wie inkohärente Überlagerungen, so lange der technische Strahlungsempfänger das Objekt in einem bestimmten Einfallswinkel vom Raumpunkt aus detektiert.

»Das war nicht gerade ein Honiglecken«, beschreibt Nickl die Zusammenarbeit mit seinen Programmierern. »In die Algorithmen des Prozesses  sind sämtliche meine Standardkriterien bei der Beurteilung von Kunst eingeflossen, also Qualität der Komposition, Originalität des Ausdrucks, das Kontemplative und das Widerstrebende der Gestaltung, Informationsgehalt und Kohärenz der vorgefassten Bildidee«, berichtet Nickl. »Dass ich den KD-L47 nun auch auf fremde Arbeiten anwende, verstehe ich als intermediäre Überwindung der Selbstbezogenheit des Künstlers«.

Die mit Spannung erwartete Präsentation des KD-L47 findet nächste Woche der Reihe nach in den Konferenzstädten Wien (Intercontinental), München und London (Marriott) statt.

© Wolfgang Koch 2014

 

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Digitale Hilfestellung: Der KD-L47 kann Kunst erkennen

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Die Bedienung der neuen Tech-Power ist simpel wie die eines Brotmessers: 1. Einschaltknopf drücken, 2. Lichtstrahl auf Objekt, Bild, Gebilde richten, 3. Aktivierungsschalter betätigen, 4. Sechs bis acht Sekunden auf das Ergebnis warten, bis das Gerät den idealen Prüfzustand erreicht hat, 5. Anzeige leuchtet grün oder rot.

Im Hintergrund der digitalen Kunstprüfung arbeitet eine Bilderkennungstechnik, die das deutsche Unternehmen Mentagram in nur einjähriger Entwicklungsarbeit erstellt hat. Der KD-L47 blendet störende Faktoren wie etwa Luftstaub aus und gleicht das Ergebnis in einem letzten Schritt mit den Bilddateien von rund 150.000 verschiedenen Werken aus der Gegenwartskunst und der Kunstgeschichte in einer Datenbank ab.

Um ein optimales Nutzungsverhältnis zu schaffen, hat der Hersteller zunächst die zirka 10.000 Mentagramme des Künstlers Alexander Nickl in die Bilderkennungstechnik integriert, der Rest wurde vom englischen Unternehmen Cortesia und dem kanadischen Anbieter Slyce zugeliefert.

Es ist schwierig, alle Vorteile dieser erstaunlichen Erfindung auf einmal aufzuzählen. Kunsterkennungsprogrammen wird in der Netzwirtschaft ein gewaltiges Potential zugestanden, und zwar nicht nur, weil sie die Verlässlichkeit von Expertisen der Willkür manipulierbarer Fachleute entwinden; Auktionshäuser können bekanntlich ein Lied davon singen.

Seit den 1950er-Jahren träumen künstlerische Avantgardisten von der Überwindung zweifelhafter Reproduktionen und der Industrialisierung der Malerei als technischen Fortschritt. Die italienische Sektion der Situationistischen Internationale zum Beispiel forderte 1959, »die Strassen der Zukunft mit unerforschbaren Materien zu bemalen, die große Himmelsbahn mit Signalen abzustecken. Dort, wo heute Natriumraketen Signale sind, stellen wir morgen Regenbögen, Fata Morganas und Nordlichter auf, die wir selbst erzeugt haben«.

Solche Wunderserien aus den Ateliers scheitern bis heute an der langen Verweildauer potentieller Förderer und Sammler in der Phase der Kunstprüfung. Je länger diese dauert, desto geringer die Kaufwahrscheinlichkeit – und damit der Umsatz auf dem Kunstmarkt.

Der KD-L47 stellt den avantgardistischen Wunsch nach einer Industriealisierung der Kunstproduktion endlich vom Kopf auf die Füße. Das Kalkül dahinter: Seine nutzerfreundliche Anwendung ist Teil einer Strategie zum Testen und Lernen für jedermann. In wenigen Jahren könnte die Kunsterkennung, wie das Brotmesser, zum selbstverständlichen Inventar jedes Haushalts gehören oder als internetfähige Smartphone-App beim Konsumenten ankommen.

Niemand wird sich dann noch den Luxus leisten, zu Dingen Beifall zu klatschen, von denen er nichts versteht.

© Wolfgang Koch 2014

 

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Alexander Nickl richtet den KD-L47 gegen sich selbst

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Das Leben belästigt uns bekanntlich mit einer endlosen Reihe totalisierender Fragen: Gibt es Gott? Was ist Kunst? Was ist im Kühlschrank? Warum gibt es überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts? Was kommt danach? …

Sigmund Freud hat so eine besonders tiefschürfende Frage, die Frage nach dem Sinn des Lebens, mit dem Hinweis, sie sei doch für das menschliche Gehirn »unterkomplex«, zurückgewiesen. Ganz ähnlich verfuhren bereits vor tausenden Jahren der Hindugeist und Buddha mit der Frage nach dem tieferen Grund des Sterbens für das Leben.

Ja, darf man denn das, soviel Arroganz zeigen? Ist die Frage nach der Gottesinstanz nicht so eine Art Berufsrechtfertigung für Geistliche und Theologen? Und können Künstler ohne die Frage, was Kunst sei, auch nur ein einziges Werk hervorbringen? Halten sie, die Kreativen, mit einer durchschlagenden Definition von Kunst nicht das Ergebnis ihres Tuns schon fast in den Händen? Bestimmt der Künstler nicht mit seiner Antwort, wann ein Werkprozess angeschlossen ist?

Doch, so ist es! Genau das tut der Künstler; häufig allerdings, ohne die Sache wirklich verbalisieren zu können. Der unvergessliche Dauerplapperer Wolfgang Neuss war zeitlebens überzeugt davon, dass wirkliche Kommunikation schweigend funktioniert. Ihm schwirrte ständig die Frage durch den Kopf, ob man so geschickt schweigen kann, dass man verstanden wird.

Womit wir einen schönes Beispiel dafür haben, dass die Frage, ob etwas Kunst ist oder nicht, den meisten Künstlern unangenehm und lästig ist. Jeder in Federn und Zahnräder vertiefte Uhrmacher würde sofort aufbrausen, wenn man ihn bei der Arbeit um eine Definition der Zeit bitten würde. Jede Ärztin schüttelt heute den Kopf, wenn ihre Patienten unter Gesundheit nur den Konsum von Medizin verstehen.

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Warum also soll es KünstlerInnen anders ergehen als den Professionisten auf anderen Gebiete? Alexander Nickl versucht die lästige Frage an eine Maschine abzugeben – ohne allerdings dabei seine Verantwortung für den Geist, der sie programmiert hat, abzustreiten.

Das Kunsterkennungsprogramm des KD-L47 erscheint auf den ersten Blick wie eine konsequente Weiterentwicklung jener Bilderkennungsprogramme, die in den letzten Jahren den rapiden Wettlauf aus den Labors zum Nutzer digitaler Technologien angetreten haben.

Irritiert bleibt, dass Nickl den KD-L47 selbst aber nicht nur als ein weiteres Werkzeug im Atelier ansehen will, sondern das Gerät selbst für ein Kunstwerk hält. Der Beweis dafür ist allerdings schlagend:

Der findige Techhead aus Deutschland hat mit seinem Team bereits ein zweites Gerät hergestellt und die beiden Ausführungen des Prototyps am 16. Juli 2014 direkt aufeinander angesetzt. In einer erstmaligen Versuchsanordnung wurden an diesem Tag die Prüfstrahlen von Gerät A und Gerät B abwechselnd und gleichzeitig aufeinander gerichtet. Testergebnis jeweils nach nur acht Sekunden: positiv.

Der KD-L47 erkennt sich selbst als Kunstwerk.

© Wolfgang Koch 2014

 

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Neapolitanischer Sputnik landet im Weinviertel

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Zur Eröffnung der aktuellen Ausstellung »arena – werk aus dem werk« am 28. September 2014 im Nitsch Museum Mistelbach hat sich der österreichische Aktionsmaler und Gesamtkunstwerker Hermann Nitsch erstmals wieder in gewohnt guter Laune gezeigt. Das war lange nicht der Fall, konnte gar nicht der Fall sein. Denn in den letzten beiden Jahren hatte der Künstler und seine Familie nicht viel zu lachen.

Zum ersten Mal war Nitsch im März 2013 Opfer geworden, und zwar eines professionellen Bandeneinbruchs in sein Weinviertler Schloß Prinzendorf, bei dem hohe Geldsummen und wertvoller Privatschmuck aus dem Familientresor verschwanden.

Als die DNA-Spuren der ermittelnden Polizei in Sand verliefen, wandte sich der Künstler an den aus der Lucona-Affaire in Österreich bekannten Privatdektiven Dietmar Guggenbichler und wurde ein zweites Mal zum Opfer, als dieser Privatschnüffler seine katastrophale Erfolglosigkeit bei der Verbrecherjagd gleich zweimal mit mit satten Honoraren abgegolten sehen wollte.

Guggenbicher bespitzelte seinen Klienten und zeigte ihn wegen mutmaßlicher Steuerhinterziehung bei Ab-Hof-Verkäufen von Bildern bei der Finanz an. Das Verbrechensopfer Hermann Nitsch war in derselben Causa tatsächlich ein zweiten Mal zum Opfer geworden, nunmehr zum Opfer eines Vertragspartners. Das ungeheuerliche Verhalten des umstrittenen Privatermittlers fügte der Berufsgruppe der Detektive in Österreich schweren Schaden zu.

Dass es bei der Anzeige um bereits geraubtes Geld ging, das da teilweise nicht versteuert gewesen sein soll, dieses Faktum schreckte die Finanzbehörde keine Sekunde. Die Republik Österreich zögerte nicht, Nitsch im März 2014 ein drittes Mal zum Opfer zu machen. Korneuburger Finanzbeamten rückten mit Boulevardpresse und FPÖ-Fernsehen im Schlepptau am Wohnsitz des Künstlers an, konfiszierten Festplatten und Büroakten. Seit dieser Razzia mit Medienbegleitung und der entsprechenden öffentlichen Häme im Anschluss ist gegen Hermann Nitsch und seine Frau Rita in Österreich ein Steuerverfahren anhängig.

Noch bei heutigen Pfingstfest war Nitsch ein gebrochener Mann, nannte Guggenbichler einen »Nazi« und dachte laut über das Auswandern aus Österreich nach. Es ist zum Glück anders gekommen: nicht Nitsch kehrte seiner Heimat den Rücken, sondern seine Kunst kehrte aus dem Ausland für eine große Schau nach Österreich zurück.

Der italienische Galerist und Sammler Peppe Mora betreibt seit 2008 mit Leidenschaft ein spektakuläres Privatmuseum in Neapel. Mora, der unter anderen den Nachlass des Theaterrevolutionärs Julian Beck sein Eigentum nennt, besitzt eine weltweit einzigartige Kollektion von Nitsch-Arbeiten.

Für Österreich hat Morra nun selten gezeigte Aktionsrelikte zu einer exquisiten Schau zusammengestellt, die bis Ende März 2015 zu sehen ist. Besonders augenfällig: neue Arrangements und Applikationen von 2012/13 im Eingangsbereich, zusammengestellt aus hölzernen Bahren, bemalten Tüchern und Blumen.

Nitsch zeigte sich zur Eröffnung dieser in Handlungen eingebeteten künstlerischen Analysen entspannt wie seit langem nicht und ließ mit witziger Sprachkritik aufhorchen. »Diese Sputnik-Typen behaupten doch andauernd, dass sie im Weltall sind«, bemängelte er. »Aber die Leute lassen sich da für dumm verkaufen! Wir alle, die Menschen, die Erde, das ist doch auch alles im Weltall«.

Das hübsche Aperçu weißt den Mikrokosmiker und Künstlerphilosophen Hermann Nitsch, bei all seiner Polemik gegen sinnesfeindliche und intellektuelle Lebenshaltungen, selbst als geistesgegenwärtigen Kopf aus.

© Wolfgang Koch 2014

Foto: nitsch museum

 

 

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Der Künstler als Vaterfigur in der Gegenwartskunst

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Das 19. Jahrhundert ist als »Epoche der großen Vaterkonflikte« in die europäische Kultur eingegangen. Ein Geistesriese wie Sigmund Freund wäre gar nicht denkbar, ohne die Verwerfungen in der eigenen Familie.

Die Idee zum Ödipus-Komplex, einer zentralen Denkfigur der klassischen Psychoanalyse, verdankte Freud seiner inneren Zerissenheit. Schonungslos wie fast immer gab er zu, wie sehr er seinen Vater verachtete und zugleich bewunderte, dass er ihn überholt, aber nie überwunden hatte.

Bereits in seiner Jugend wählte Freud eine Reihe von Ersatzvätern unter seinen Lehrern; er idolisierte Moses und Oliver Cromwell. Später drückte er sich um die Pflege des sterblichen Vaters, finanzierte aber ein Jahr nach dem Begräbnis, zu dem er nicht erschien, den Grabstein für seinen Erzeuger.

Der österreichische Künstler Hermann Nitsch ist schon in vielerlei Hinsicht gewürdigt worden, der Kathedralen-Charakter seiner Aktionsmalerei und seines Orgien Mysterien Theaters tritt seit 2007 und 2008 in den beiden monographischen Museen Mistelbach und Neapel gut zum Vorschein.

Selten oder gar nicht aber wird der enorme Einfluß gewürdigt, den Nitsch auf Künstlerkollegen nimmt und genommen hat. Ohne in Österreich je einen Lehrstuhl besetzt zu haben, fördert und ermutigt Nitsch seit Jahrzehnten junge Talente, ihren eigenen Weg zu gehen, wie er den seinen gegangen ist: gegen alle Widerstände von Politik, Religion und öffentlicher Meinung.

Legionen von Künstlern und Kunsthandwerkern, von Komponisten und Vergoldern, Tischlern und Filmemachern sind durch Nitschs Weinviertler Schloß Prinzendorf gezogen. Er hat Hunderte von Schönheits- und Wahrheitssuchern mit Worten ermutigt, mit Aufträgen beschäftigt, an Galeristen vermittelt, und Nitsch zögert bis heute nicht, jugendlichen Wagner-Enthusiasten zu erklären, wie er die Idee des Gesamtkunstwerks auffasst.

Vor Dekaden hat die heutige Performance-Ikone Marina Abramović in Nitschs Atelier assistiert, aus einem Körpermodell Heinz Cibulka ist ein Medienkünstler, aus seinem Mitarbeiter Hanno Milesi ist ein vortrefflicher Schriftsteller geworden, der Dekadenz-Anhänger Paul Renner stand in den Küchen der Feste. Für den Filmproduzenten Peter Kasperak, für den in London lebende Regisseur und Künstler Andrea Cusmano – für sie und für viele andere war Nitsch in bestimmten Phasen der eigenen Arbeit eine überragende Vaterfigur.

Soviel Leidenschaft für Nähe und Austausch wirkt in Zeiten, in denen man lieber gefühlsneutral von »Elternschaft« redet als von Vaterpflicht und Mutterliebe, wie eine Extravaganz. Doch auch, wer sich in stillen Stunden für kosmische Zyklen und das Sternebeobachten begeistern kann, muss kein Ignorant des sozialen Lebens und der Geselligkeit sein.

Hermann Nitschs Ziehsohn, Leonhard Kopp, ist unter den Heurigentischen der Mal- und Saufberserker des Wiener Aktionismus in den 1960er und 1970er-Jahren aufgewachsen. Aus dem Jungen mit der nonkonformistischen Kindheit wurde ein angesehener Physiotherapeuth und Podologe in Bad Sooden-Allendorf in Deutschland.

Bis heute ist für diesen Sprössling der Familie in jeder Nitsch-Partitur die Rolle des Akteurs Nr. 1 reserviert. Leonhard Kopp kommandierte die Spielteilnehmer in Prinzendorf und in Neapel, im Wiener Burgtheater, in Kuba und Leipzig. Lässt sich die Weitergabe des promethischen Feuers vom Vater zum Kind irgendwie sinnfälliger darstellen, als in dieser Rollenzuschreibung der Nr. 1 im Lebenswerk des Sechstagemysteriums?

Ich kenne nichts Vergleichbares unter den modernen Vater-Sohn-Beziehungen. Der Tango-Revolutionär Astor Piazzola hat seinen Vater musikalisch im Werk geehrt, Soul-Legende Horace Silver komponierte 1964 einen Song für seinen Vater. Walker Percy und Phillip Roth haben ihren Vätern Denkmale in Romanen gesetzt. Aber welcher Künstlervater, bitte, hat in umgekehrter Richtung seinem Kind derart nobel die Referenz erwiesen wie Nitsch seinem Sohn?

Für Nitsch und seine unerschöpfliche Daseinsbegeisterung bedeutet Kunst Heimkehr in die unverrückbaren Strukturen einer kosmosgebundenen Kultur, deren Herren wir sein sollten. Vom Christengott, der sein Fleisch am Kreuz hinweg gab für die Sünden der Welt, sind wir da ganz weit entfernt.

© Wolfgang Koch 2014

Foto: nitsch museum

 

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Mary Poppins – Das Musical völlig ohne Fehler

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Es muss schon einiges passiert sein, wenn in der Theaterstadt Wien nicht mehr die Produktionen von Burgtheater und Oper das Gesprächsthema in den Familien und am Kaffeehaustisch bilden, sondern die deutsche Adaption eines Broadway Musicals aus den Erfolgsstudios von Disney.

Tatsächlich ist in Wien 2014 etwas geschehen: Die Hauptbühnen der Stadt sind komplett mit sich selbst beschäftigt. Das Burgtheater mit einem, jahrelang vom sozialdemokratisch geführten Kulturministerium vertuschten Finanzskandal in der eigenen Verwaltung; die Wiener Oper mit dem erzürnten Abgang ihres künstlerischen Leiters, der in einem nahezu wortlosen Knalleffekt die Leitung des Hauses am Ring angegriffen hat.

Den Produktionen beider Institutionen nützt mitten in den Skandalen auch die massive mediale Unterstützung des ORF nichts mehr, der zur Hofberichterstattung des Wiener Kulturlebens bekanntlich den eigenen Spartenkanal ORF III betreibt. Man spricht in Wien nicht mehr über das künstlerische Angebot der Megahäuser, man spricht bis in nächtliche Sitzungen des Parlaments hinein über mysteriöse Prämienzahlungen und Rollenbesetzungen.

Das breite Publikum aber wendet sich angewidert ab von den Skandalen und der leichten Muse des Musicals zu. Im Ronacher präsentieren die Vereinigte Bühnen Wien eine wirklich spektakuläre Version der Mary Poppins von Cameron Mackintosh, die Abend für Abend niemanden kalt lässt und die das – großteils touristische Publikum – zu wahren Begeisterungsorgien hinreißt.

Was gibt es da zu sehen? Mackintosh hat die Handlung des 1965 Oscar-prämierten Fantasyfilms aus dem Jahr 1910 in das viktorianische Zeitalter mit seinen Parkwächtern und Hausköchinnen zurück versetzt; die literarische Vorlage zu Film und Musical spielt überhaupt erst in den 1930-Jahren.

Das feenhaft gute Kindermädchen der Bürgerfamilie am Kirschbaumweg 17 wurde zunächst in Englisch mit neuen Szenen und Lieder beschenkt. Die Mary in der Regie von Richard Eye ist eine provozierend selbstbewusste junge Frau, kämpft charmant und bestimmt gegen falsche Erziehungsmethoden und die Diktatur der internationalen Finanzwelt.

Der zweite Vorgang, der das Publikum scharenweise ins Ronacher treibt, ist wohl der Wandel des modernen Theatergeschehens selbst. Vorbei die Zeiten, da ein der deutschen Sprache gar nicht mächtiger Charly Chaplin auf einer Europareise in einer Loge des Ronacher saß und gebannt einer Darstellung des Pompfunebrers lauschte, die dem nuschelnden Volksschauspieler Hans Moser auf den Leib geschrieben worden war.

Zu solchen intimen Momenten ist das moderne Musiktheater gar nicht fähig. Keine Stimme in Mary Poppins ertönt ohne elektronische Verstärkung, kein Instrument erklingt im klassischen Orchesterforte. Alle Szenen sind überladen mit Effekten, auf technische Überwältigung aus. Die unheimlich präzise Choreographie folgt der Ästhetik des zeitgemäßen Filmschnitts, dessen Erfinder bekanntlich fest daran glauben, die Aufmerksamkeit der Zuseher durch ständig wechselnde optische Reize fesseln zu müssen.

Man könnte pessimistisch werden und sagen, dass dieses Musiktheater nicht mehr auf die ihm eigenen Mittel vertraut, sondern die Aufmerksamkeit brachial mit Akrobatik und einer rammelnden Bühnenmaschine steuert.

Aber das wäre nur die halbe Wahrheit! Die Publikumsbedürfnisse haben sich eben gewandelt, im Musicaltheater wachsen seit Jahrzehnten Operette und Zirkus, Familienaufstellung und Neue Medien zusammen.

Man meint immer wieder vor einem Artpop-Video zu sitzen: die Bühne unnahbar fern, jeder Tanzschritt mit nem’ Teelöfel Zucker. In der Gestalt von Mary Poppins blitzt Lady Gaga auf, Mister Banks arbeitet für Michael Endes graue Männer, man schlürft aus Riesenkochlöffeln Krautsaft und Fischöl, man verlacht Korrektheit und Ordnung.

Die Statuen im Park erwachen zu Living Mannequins. Als Symbol gelungenen Familienlebens flattern Drachen im Wind. – Dann wieder, nur Sekunden später, ist es, als träumten die Tanzkapitäne von einem Gras-Tourismus nach Denver.

Man spielt also ein faszinierend temporeiches, ja atemloses Spiel. Der Text gehört zu den unwichtigsten Nebensachen. Und was nutzt denn auch das ganze, von Wolfgang Adenberg gekonnt übersetzte Wortmaterial, wenn die multisprachige Holländerin Annemieke van Dam in der Rolle der Pädagogin von den Kindern fordert, die Bereitschaft zur Kooperation müsse »von innen« kommen, wenn sie doch nur »von ihnen« kommen soll?

Gewiss, eine Kleinigkeit, aber symptomatisch dafür, wie weit sich dieses High-Tech-Geschichtenerzählen vom klassischen Theaterabend entfernt hat.

Um die gelungene Vorstellung abzurunden, braucht auch die moralische Botschaft am Ende nicht zu stimmen. Als sich der Versager Georges Banks (»Good for Nothing«) im Finale wenig überraschend als weitsichtig vorausschauender Schutzengel der Bank entpuppt, da wird der Mann als Dank für die Rettung des Unternehmens per Akklamation zum Vizedirektor ernannt. Alles, was wir wollten – nun ist es passiert.

Mister Banks nimmt die Beförderung zum Vizedirektor unter der umjubelten Bedingung an, die Arbeit am operativen Geschäft der Bank  hinter seiner Familie zu reihen. Ein im wirklichen Leben, wie jeder weiß, unmöglich zu erfüllender Anspruch. Ein geschäftsführender Direktor ist entweder beruflich erfolgreich oder er ist privat glücklich. Beides zusammen gibt es nur am Brodway.

© Wolfgang Koch 2014

Foto: Deen van Meer – David Boyd als Bert

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Ich verwende meine Füllfeder als Aussichtsturm

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Die Kontinuität, die eine Gesellschaft zusammenschweißt, ist immer eine der Traditionen und der Sitten. Die stärkste davon: der Ahnenkult. Keine materielle oder territoriale Gemeinschaft bindet uns stärker als das geistige Band zu unseren Toten.

Weite Teile Afrikas und Asiens wissen das noch – in unseren Breiten ist der Ahnenkult vor allem eine Reminiszenz, aber auch eine Reserve, auf die die Gesellschaft in Krisenzeiten zurückgreifen kann.

Es ist schon erstaunlich, wie sich die prominenten Kulturtoten in den Ehrengräbern an die Präsidentengruft am Wiener Zentralfriedhof heranpirschen. Nahezu alle verstorbenen Künstler, Literaten und Schauspieler, die man in den letzten Jahrzehnten in den Gruppen 32C, 33G und 14C zur letzten Ruhe gebettet hat, könnten genauso gut im etwas weniger zentralen Ehrenhain der Kulturschaffenden, Gruppe 40, liegen.

Abgesehen vom Kompositionsgenie Arnold Schönberg und vom Lehrerdichter Ernst Jandl hat ja kaum einer der geehrten Toten nachhaltig über Österreich hinaus gewirkt. Die prominente Platzierung der Verstorbenen an der Hauptachse zur Friedhofskirche dokumentiert eher den Einfluss der Hinterbliebenen auf den Wiener Kulturstadtrat und damit ihren familiären Rang im Wiener Kulturleben, denn eine kulturelle Bedeutung in größeren Zusammenhängen.

Was die Lage mancher Ehrengräber dennoch rechtfertigt, ist ihre außerordentlich gelungene Grabgestaltung. Ich denke an Franz Wests Gekröse-Plastik am eigenen Grab, an die elegant-modernen Ruhestätten der Architektin Margarethe Schütte-Lihotzky, des Designers Josef Hoffmann und an die schöne, liegende Frauengestalt von Fritz Wotruba am Grab der Staatsopern-Primadonna Selma Kurz-Halban.

Seit Oktober 2014 ist der Zentralfriedhof nun schon wieder um eine Attraktion reicher: Am Grab des 2009 verstorbenen Poeten Gerd Jonke erhebt sich eines der seltsamsten Kreuze, welches uns die Gegenwartskunst zu bieten hat.

Was steht da am Grab Nr. 41, in der Gruppe 33G? – fragt sich der Wiener Friedshofsgeher schon von weitem. Die überlebensgroße Steinskulptur wirkt zunächst wie ein Scherzartikel, und soll das wohl auch. Ein Hinkelstein mit Haltegriff? Ein Barbapapa mit Stielaugen? Ein in der Wiese vergessener Tränensack? Eine, jede Ehrerbietungen verweigernde Süßkartoffel inmitten von glänzenden Granitplatten, steifem Blumenschmuck und verkrampftem Kies?

Gerd Jonke war mehr als ein Mensch, nämlich ein absonderlicher Mensch: ein Dichter. Geboren 1946 in Klagenfurt, lebte er viele Jahre in Wien und starb vor fünf Jahren. Von Tag seiner Beerdigung an hat die Regisseurin Ingrid Ahrer, Lebensgefährtin des Dichters, 1.825 Mal das Grab besucht und dabei die Verwitterung des einfachen Holzkreuzes fotografisch dokumentiert.

Schließlich beauftragte die intensiv trauernde Frau den in Wien lebenden, ebenfalls aus Kärnten stammenden Maler und Bildhauer Wolfgang Walkensteiner mit einer steinernen »Metamorphose des einfachen Holzkreuzes«.

Walkensteiner teilte mit Jonke die Liebe zu mäandernden, eiernden Formen. Entsprechend wählte er zum Umsetzung des Grabsteins einen großen Block Krastaler Mamor, zog daraus einen runden Stab als Bohrkern, bevor er die Eier-Form aus dem Block meißelte und ihrer Oberfläche verschiedene Polituren gab. Am Ende setzte der Künstler den Bohrkern als Querbalken des Kreuzes in das Loch im Stein wieder ein.

Jean Cocteau hat im Kreuz das Schwert, das Christus metaphorisch enthauptet hat, gesehen. Das ist schon ziemlich um die Ecke gedacht. Aber es ist absolut verständlich, wenn sich Künstler immer wieder und zu allen Zeiten an der Kreuzform abarbeitet haben.

Walksteiner bezieht das vertikale und das horizontale Extrem fast beiläufig aufeinander, und macht so auf seine Art plausibel, dass nicht im entsetzlichsten Leiden eine Überwindung des Todes und in den ärgsten Qualen Gnade und Erlösung zu finden sind. Er spricht vom Kreuz als einem »Leuchtturm«.

Die Erlösungslehre war ja lange Zeiten hindurch nur eine Satisfaktionslehre. Demnach haben die Menschen durch ihr Tun Gott beleidigt. Da sie aus eigener Kraft diesen Schaden nicht wiedergutmachen konnten, hat Gott seinen Sohn gesandt. Er hat durch dieses Opfer am Kreuz sich wieder mit dem Menschen versöhnt und sie erlöst.

In seinem Sterben lud Christus die Schuld der Welt auf seine Schultern. Wurde der Mensch durch das Kreuz mit dem körperlichen Leiden konfrontiert, so sollte er darin nichts als seine Mitschuld sehen.

Das tut der merkwürdige »Leuchtturm« auf Jonkes Grab nicht. Er konfrontiert uns ausdrücklich nicht mit dem körperlichen Leiden, mit dem der krebskranke Dichter in den letzten Jahren seines Lebens weit über seine Kräfte konfrontiert war.

An diesem Hinkelstein-Kreuz ist alles verschwunden, worin sich der Mensch am Boden der Religion jahrhundertelang anklagte: der Corpus, die Inschrift, die Nägel, die symmetrische Ordnung. Es zeigt nicht, was eine unvermeidliche Sündhaftigkeit angerichtet hat, sondern beweist ausgelassenen Humor.

Es treibt das ewige Spiel der Kultur mit den schweren Zeichen weiter. Es weint kindlich um die vergangene Luft. Es behauptet keine Mitursache des Menschen an seinem Tod.

© 2014 Wolfgang Koch

Fotos: Christian Ruhs

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aNOther festival – Hieroglyphen des Jetzt im Wiener Konzerthaus

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Der Weg ist nicht einfach. Sie stoßen, gleich neben dem Kassenraum des Wiener Konzertshauses, eine lackierte Tür auf, fegen Spinnweben beiseite und steigen über Wendeltreppen und Hängebrücken in immer tiefere Tiefen der Keller hinab.

Irgendwann sind Sie in einem kohlschwarzen Raum mit Toiletten angelangt. Hier wohnen nur mehr Larven und Nacktschnecken, Wurmexistenzen und Lichtscheue, und unter ihnen: die Choristen des Neuen, die ewigen Freier der Penelope. Auf einem Tisch liegen Kinderstifte bereit. Im Halbdunkel erkennen Sie Erwachsene, die den Tribut in Form von Schokoladetafeln entrichten. Dann öffnet sich eine Tür, Sie treten in ein noch ein dunkleres Gemach, das wegen seiner brummenden Klimaanlage eigentlich völlig ungeeignet ist für musikalische Aufführungen.

Sie sind angekommen unter den beweglichen Unbeweglichen, in der Unterhöhle der Avantgarde, bei der Künstlerbohemé mit ihrer unendlich spitzfindig verästelten und fein nuancierten Unkorrumpierbarkeit. Im musikalischen Untergrund, wo man wie als Kind scheinbar wertlose Dinge aufhebt, wo man mit Ausdauer und Arbeitkraft auf Trinksprüche und Allgemeinplätze verzichtet, im halb verborgenen Gegenwartsglitzern einer Halloween-gestimmten Totentanzgeneration.

Nein, brut, so der Name des Kellers, ist kein Amusement-Center für alle Bevölkerungsschichten. Während ein paar Niveaus darüber das Festival Wien Modern für betuchtes Publikum mit Schwefelhölzern spielt, versammeln sich hier Exoten und vogelfreie Experimentelle, um ihre inneren Monologe in Klängen und Bildern vor den geschulten Augen und  Ohren von Musikern, Theaterwissenschaftern und Medienlaboranten auszubreiten.

Zunächst entfaltet das Taipei Grass-Mountain Folk Orchestra eine Klangkulisse aus einem vergilbten Asien-Film; das aus der Ferne angereiste Ensemble eröffnet den Raum zur Entfaltung der Imagination: Wer hören kann, wird sehen. Gelungene Volkslieder werden zu Gassenhauern, Figurenrede verwandelte sich in Sprichwörter. Kampfpferde wiehern, das schöne Afrika winkt. Die exotischen Klangfarben von Erhu, Yangqin und den anderen Pfauen unter den Instrumenten Chinas tragen das Publikum weit über die Kellergruft hinaus.

Als der Zhunghu-Spieler des Ensembles eine Legende aus Kelaquin vorträgt und dabei den Chinaschmelz in eine mehr offene Richtung verlässt, wird die Darbietung geradezu verzweifelt expressiv. Das kommt wahrscheinlich daher, dass Asiaten kein sicheres Konzept für Melancholie besitzen.

Die Performance Cortex von ManfreDu Schu versucht das Gestaltungsprinzip der Slow Movie-Bewegung auf die Bühne zu übertragen und scheitert. Hat nicht der auf  Taiwan tätige chinesisch-malaysische Filmregisseur Tsai Ming-Liang erst letztes Jahr im wunderbaren Filmepos Xi You eindrucksvoll gezeigt, wo die Grenzen der Verlangsamung liegen, als er einen Mönch in Superzeitlupe durch die französische Stadt Marsaille laufen ließ?

Der Langsamkeits-Darsteller Raphaël Michon hat beim aNOther festival entschieden zu wenig Zeit; alle Gesten und Bewegungen geraten ihm zu schnell, weil sie gespielt und nicht aus einer inneren Haltung heraus entwickelt sind. Slow Motion hat am Theater einen bekannten Namen: Butoh, und die Erfahrungen dieses Tanztheaters lassen sich nicht einfach überspringen.

Den Höhepunkt des ersten Festivalabends bildet eine Uraufführung von Wolfgang Liebhart, die auf mikrotonale Gesänge der Tao, einem offiziell anerkannten indigenen Volk Taiwans, rekurriert. Die auf der großen und der mittleren chinesischen Fidel, Zhounghu und Gaohu, von der Erhu-Spielerin Chia-Hua Chang angeschlagenen Töne werden dabei elektronisch live bearbeitet.

Liebhart erschafft hier Klänge innerhalb des Klanges, verschmilzt sie zu pastösen Gebilden. Man könnte auch sagen, sein digital induzierter Monolog am Rechner sucht Trost bei den Klangformen und -farben zwischen süd- und ostchinesischer See. Andeutungsweise tauchen Orgelkaskaden auf, Thereminjauler, für Sekunden wabbern lastwagenbreit rhythmische Motive aus den Boxen, bevor dramatisch gekonnt ein leuchtend heller Herbstakkord in den Raum tritt.

Das alles bleibt stets von großer, unpathetischer Klarheit. Wenn eine Musik glaubwürdig ist, dann verströmt sie eine besondere Art freundlicher Energie, und die verdankt sich nur der Genauigkeit eines völlig selbstvergessenen Arbeitens. Spekulationen auf Publikumsreaktionen würden von den kritischen Zuhörer dieses Festivals sofort durchschaut.

Die Schlauheit, das Großartige und auch das Dramatische des Dargebotenen besteht also darin, dass es sich auch nach einhundert Jahren nicht in das System der herrschenden Tonsprachen einschreiben lässt, und in den Katakomben der Gegenwart als Fremdartiges verlässlich Erschrecken und Staunen provoziert.

© 2014 Wolfgang Koch

Fotos: aNOther festival

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Hermann Nitsch und die ewigen Niederungen der Politik

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»Ich habe ausreichend bewiesen«, betont der österreichische Künstler und Gesamtkunstwerker Hermann Nitsch, »dass ich nicht politisch bin«, und er sagt das mit der Gewissheit eines vom Dasein verheißenen Heils, dass einem die Worte durchaus verdächtig vorkommen können.

Tatsächlich ist Nitschs Kunst, das Orgien Mysterien Theater, vollkommen frei von politischen Gesten. Dabei hatte der Künstler in seiner langen Karriere viele Berührungspunkte mit politischen Menschen und dem politischem Denken. Das begann mit der Parodie einer »österreichischen Exilregierung« durch die Wiener Avantgardekünstler in den Nachkriegsjahren. Den Aufruf in der ersten Ausgabe des Organs Die Schastrommel 1969 zeichnete Nitsch als »Kaiser für Religion und anderen Fragen«.

Als sich dann in Wien die ersten zarten Pflänzchen der Studentenbewegung rührten, machten sich die politisierten Intellektuellen sofort lustig über den Infantilismus der Wiener Aktionisten.

Ihre Eifersucht war durchaus berechtigt, denn die Aktionisten verkörperten die antiautoritäre Revolte in mancher Hinsicht viel glaubwürdiger als die marxistischen Zirkel und die Satanskultler um ihren ehemaligen Mitstreiter Josef Dvorak. Der Konflikt in der Subkultur führte zu sich über Jahre hinziehenden Wortfechten in der von Günther Nenning herausgebenen Kulturzeitschrift NEUES FORVM.

In den 1970er-Jahren näherten sich Österreichs sozialdemokratische Politiker in Riesenschritten der Kunst und der Kultur. Bundeskanzler Bruno Kreisky hatte parallel zu den Reformen im Schul- und Bildungsbereich die Öffnung der Partei für Künstler und Intellektuelle ausgerufen. In der Folge hofierten Nitsch bis in die 1900er-Jahre alle möglichen SPÖ-Granden. Seine Schüttbilder zierten nun auch die Wände von Staatskanzleien. Bundesminister Rudolf Scholten, ein prägender Kulturpolitiker der Epoche, deklarierte sich offen als Nitsch-Freund.

Die sozialdemokratische Kulturpolitik akklamierte den Aktionsmaler, der aus dem Exil zurückgekehrt war, wie sie es auch mit dem Bürgerschreck Thomas Bernhard tat, mit dem selbsternannten »Eurostalinisten« Alfred Hrdlicka, dessen neobarocke Skulpturen seither als Mahn- und Denkmale an finstere Zeiten in Hamburg und Wien herhalten müssen.

Wahllos feierten Sozialdemokraten alles, was irgendwie nach Innovation und Aufbruch aussah. Der burgenländische Landeshauptmann Theodor Kery besuchte 1979 bis 1986 regelmäßig den Friedrichshof, in dem der Kommunarde und Künstler Otto Mühl seine »Diktatur der freien Sexualität« eingerichtet hatte, mit sich selbst als unumschränkten Eigner des Jus primae noctis.

Die linksliberale Wiener Kulturschickeria und prominente Jouralisten des Landes hätschelten und tätschelten den psychisch schwerstens gestörten Schriftsteller Jack Unterweger als »rebellischen Star« des Literaturbetriebs, bis ihm die polizeilichen Ermittler elf Prostituiertenmorde nachweisen konnten.

Nitschs Mißtrauen gegen die Aufmerksamkeit von Politikern und Journalisten war also mehr als berechtigt. Die Parteifunktionäre stellten sich den Künstler als einen taubstummen Knecht ihrer Wahlschlachten vor, der ihre absoluten Standpunkte teilte und gehorsam weiter transporierte. Aber Kunstwerke funktionieren nun mal anders, sie bringen neu erfahrbare Gestaltungen hervor und deshalb auch neue Kohärenzen.

Hartnäcktig nachfragende Interviewer überraschte Nitsch gerne mit einem Bekenntnis zum Anarchismus. Der Anarchismus ist seit 1937 keine politische Kraft mehr, sondern ein Hobby von Antiquariatsspezialisten. Nitsch stand zeitweise mit so einem deutschen Leseananarchisten in Briefkontakt. Doch darum ging es gar nicht. In Bohèmekreisen genügte das Wort »Anarchie« immer noch als Code für lebenskünstlerische Unangepasstheit und Widerständigkeit.

Heute gehört es zu den Pointen der Nitschen Vita, dass sich der »steuerzahlende Anarchist«, als der er sich vor zwanzig Jahren hingestellt hat, real unter Verdacht steht, ein gewöhnlicher »steuertricksender Unternehmer« zu sein.

Bei diesem Verdacht braucht aber keine Brust zu zerspringen! In der selbsternannten »Kulturnation Österreich« kann kein Kulturschaffender auf Dauer ohne staatliche Stütze, ohne privates Mäzenatentum oder ohne Atelierverkäufe in der Grauzone der Finanzgesetze überleben.

Dass sich unser Künstler stets von allen politischen Begehrlichkeiten abgegrenzt hat, war ihm nie wirklich von Nutzen. Sein stolzes Nein hinderte Gegner keine Minute, Nitsch als »Staatskünstler« zu denunzieren. Als Begründung genügten da ein paar verspätete Ehrungen, des mittlerweile im Ausland bekannt gewordenen Mannes.

Nitschs Kontakte zu den Grünen gehen auf Madeleine Petrovic und Monika Langthaler zurück. Da die Akademikerpartei an Nitschs Wirkungsstätten nirgendwo an der Macht ist, erschöpfte sich der Kontakt auf erfolglose Vermittlungsversuche zwischen dem Künstler und militanten Tierrechtlern.

Mit den politischen Positionen der Grünen kann der Prinzendorfer so wenig anfangen, wie diese mit dem erklärten Gegner von Windkraftanlagen.

Heute gilt der »anarchistische Staatskünstler« als Intimus des konservativen Spielmachers in Österreich, des mächtigen niederösterreichischen Landeshauptmannes Erwin Pröll (ÖVP). Wer Österreich kennt, weiß, was das bedeutet: Schlagartig haben sich sozialdemokratischen Politiker von den Veranstaltungen des Künstlers zurückgezogen, denn auch kulturelle Sympathien strömen in Österreich nach dem Proporzsystem der beiden ehemaligen Großparteien.

Erfüllen nun das Land Niederösterreich und der Bezirk Mistelbach mit dem Nitsch Museum ihre Pflicht gegen die Kultur? Ja und nein. Für die Leistungsträger der schwarzen Reichshälfte ist Nitsch einerseits eine Art Großstadtpille, die Anschluss an moderne Urbanität und den internationalen Kunstbetrieb verspricht.

Zweitens sind die Konservativen um Pröll herum klug genug, kulturelle Aktivitäten als Wirtschaftsfaktor in der Tourismusbranche anzuerkennen und massiv zu fördern. Die ÖVP-Politiker mögen vordergründig Presse-Events und kulinarische Genüsse im Sinn haben, im Hinterkopf dreht sich bei ihnen alles um die Schaffung von Arbeitsplätzen in ländlichen Randlagen. Das allein kann ihre Wiederwahl sichern.

Die Volkswirtschaft ist der Grund, wieso konservative Politik heute einen Zugang zur zeitgenössischen Kunst suchen; und das ist durchaus verschieden von der Taktik der Sozialdemokraten, die geistige Hegemonie über den Stammtischen durch kulturelle Impulse zu erobern. Gewiss, um Machterhalt geht es in beiden Fällen.

Die Bedeutung von Kultur als Feld der Realitätserfahrung wird in Österreich, trotz gegenteiliger Beteuerungen, marginal behandelt. In der politischen und medialen Diskussion geht es, wie überall, um ökonomische Themen und die Sicherung des Pensionsystems.

Dass Kunst generell eine Sache der auf Imagination beruhenden Rationalität ist und ein Medium, das nachhaltig neue Realitäten zu schaffen vermag – das wird in öffentlichen Auseinandersetzungen vom Gedöns der Politik völlig verdrängt.

© 2014 Wolfgang Koch

 

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Ich bin meine eigene Suchmaschine

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»Wer viel reist, behält nichts«, hat der französischen Schriftsteller Jules Renard 1901 in sein Tagebuch notiert. Das mag in unserem Zeitalter, im Zeitalter der Incentive-Reisen und der Wochenendflüge, verschärft gelten, allein Paul Albert Leitner, Österreichs bravouröser Street Photographer, reist viel und reichlich. Er behält dabei nicht nur einiges, er erkennt dabei auch das eigene Selbst in dem Rätselhaften, dem er begegnet.

So sah das Otto Hochreither kürzlich bei einer Eröffungsrede in Graz. Dort zeigt der stoppelbärtige Künstler in einem romantischen Spiel von Kapitulation und unglücklichem Bewusstsein Weihnachtsmotive aus aller Welt bei den kunstsinnigen Grazer Minoriten.

 Wenn Leitner irgendwo auf der Welt rätselhaften Weihnachtsmotiven begegnete, so Hochreither, dann geschah das in der Regel unerwartet plötzlich. Der kleine, stoppelbärtige Mann blieb irgendwo in China oder in London rückartig stehen, um ein Foto zu schießen. Aus einer gewissen Höhe, lernen wir, sieht der Künstler eben alles. Auch das eigene Selbst in der rot-weissen Advent-Deko, im Geschenkspapiermüll, im Christbaumkadaver.

Paul Albert Leitner finden nicht einfach das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen, wenn er es findet; er findet, wenn er auf das Kind in Wickeln gewickelt und in einer Krippe liegend stößt, sich selbst als Künstler.

Das ist tröstlich. Für den Eröffungsredner der Ausstellung war es noch mehr als das, nämlich »als Naivität gedachte Subversivität«. Diese taktische Haltung zum Leben verkörpere der Künstler und Menschen Paul Albert Leitner als Ganzes.

Unweigerlich denkt man an Agit 883, an die Gugginger Künstler, an Udo Jürgens. Ja, war das Leben des Schweizer Staatsbürgers und österreichische Steuersparers denn nicht auch »als Naivität gedachte Subversivität«?

Naiv subversiv am Heiligen Abend in Graz ist vor allem, dass der erklärte Popatheist Leitner nach einer Einzelausstellung im Land der Dalai-Lama-Fresser und nach einem Studienaufenthalt in London nun im tiefsten Herz des österreichischen Katholizismus  gelandet ist, im Herzen des kunstsinnigen österreichischen Katholizismus, versteht sich.

Die Grazer Ausstellung wäre eine unvollständige Leitner-Schau, wenn zu den Fotos nicht noch Texte und Erinnerungsstücke kommen würden. Christbaumskelette mit Angaben von Fundort und Datum. Für den Existenzialisten Leitner ist es eben wohltuend, wenn auch Christbäume sterben wie die Menschen.

Im Grund  hat der in Wien lebende Tiroler keinen Sinn für Religion. Die in religiöser Hingabe enthaltene Erotik entgeht ihm ebenso wie die Freude am metaphorischen Sprechen der Prediger.

Das macht nichts, ja das macht den Künstler umso empfänglicher für die angeblich fehlende Besinnlichkeit unserer Weihnachtsfeiern. Aber das Fest der Geburt Jesu ist nun einmal kein leerer Konsumexzess, wie man dieser Tage wieder auf allen Kanälen hören kann.

Alle großen Feste der Menschheit sind mit Verausgabung und Verschwendung verbunden. Im Geben und Nehmen der Geschenke findet die Feierlichkeit überhaupt erst zu sich. Oder im modernen Kunstjargon gesprochen: Das Weihnachtsfest erkennt das eigene Selbst im Rätsel der rauschenden Gaben.

Wie in jeden kernigen Atheisten steckt in Leitner ein verlorener Sinnsucher, der glaubt, dass niemand die Widersprüche des Menschlichen besser sehen kann als er. In dieser Weihnachtsausstellung stehen Weihnachtsgleichgültige, Weihnachtsverächter, Weihnachtsbekämpfer und Weihnachtsleidende am Pranger.

Fotografieren ist hier in Wahrheit ein erfahrungsscheuer Zugriff auf die Welt, ein Ausdruck des Verlierens. Im Unterschied zum Schreiben, wo der Autor des Geschrieben eingedenkt, befördert das Fotografieren ja das Vergessen des Gesehenen.

Fotografien sind die flüchtigen Mementos einer im Zerstörungsprozess und im Verschwinden begriffenen Welt, sind Dokumente eines Bewusstseins, dem wenig an der Fortführung des Lebens gelegen ist.

Die Suchmaschine Leitner sucht nicht. Jedenfalls diesmal zu wenig, was über die Erkenntnis, eine Suchmaschine zu sein, hinaus wert wäre, gefunden zu werden.

 © Wolfgang Koch 2014

 Foto: Marika Rakoczy

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Schön und interessant ist nicht unbedingt das gleiche – Die Weltreise, Teil 1

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Die letzten, von ungebremster Reiselust gepackten Globetrotter, denen ich persönlich begegnet bin, waren ein Tiroler Handwerkerpaar unmittelbar vor der Familiengründung und ein österreichischer Lehrer Ende Fünfzig, der unbedingt noch einmal die Hippie-Kultstätten seiner wilden Jugendjahre aufsuchen wollte.

Die beiden Weltreisenden, von denen hier die Rede ist, taten es nicht dem Geld gleich, das heute virtuell um die Erde rast. Sie nahmen kein bequemes Sabbatical-Jahr und kehrten nach Distanzen, die sich in Flugstunden messen, in ihre geschützten Werkstätten zurück.

Der Schweizer Adrian Vonwiller und die Brasilianerin Ligia Fonseca traten im August 2010 eine Reise mit offenem Ausgang an. Das Paar bracht in Wien alle seine Zelte ab, kündigte die Miete der Wohnung, verstaute die Möbel in einem Depot und begaben sich für 820 Tage auf die Grande Tour. Die Route führte die beiden durch Asien, nach Australien und über den Pazifik bis nach Nord- und Lateinamerika.

Vonwiller und Fonseca nahmen auf dieser Odyssee konsequent Hostels statt Hotels, sie reisten bis Papua bewusst ohne Flugzeug, also mit Bahn und Bus über Land, per Autostopp, mit Linienschiffen oder als Crewmitglieder einer Jacht über die Ozeane. Sie schleppten je acht Kilo Gepäck in Rucksäcken mit sich, gaben in Summe zu zweit zirka 45.000 Euro aus, inklusive Möbellager in Wien. Das war pro Kopf weniger als 800 Euro im Monat.

Drei Meere, vier Kontinente und 44 Länder funktionierte das einwandfrei – und zwar nicht nur, weil die beiden stets einen Umweg nahmen, wo es andere eilig hatten. Dieses moderne, von Sicherheiten entschlackte Abenteuer funktionierte, weil dieses Paar – wie die wirklichen Reisenden zu allen Zeiten – die angebotene Infrastruktur für das Unterwegssein nach Kräften ignorierten, weil es nach Möglichkeit kein Hotel und keine Fahrt vorausbuchte und private Kontakte zu den Einheimischen knüpfte, wo immer sich diese anboten.

Für diesen Reisestil muss man genügend informiert und mutig sein – und der 1956 geborene Zürcher Adrian Vonwiller war als gelegentlicher Reiseleiter bestens über heutige Reisepraktiken informiert. Er kannte die oberflächliche Gier der Flugreisenden nach Schauererlebnissen, er kannte die exzessive Trophäenjagd, welche die Prestigereisen von westlichen Touristen in armen Ländern heute überall kennzeichnet; er kannte die Fettnäpfen und Fallen der Tourismusindustrien gut genug, um ihnen großräumig aus dem Weg zu gehen.

Adrian Vonwiller ist kein übermäßig disziplinierter Autor, aber er bringt in seinem Bericht wichtige Gegenwartsdiagnosen überraschend auf den Punkt. »Überall auf der Welt, außer in West- und Mitteleuropa und vielleicht noch in Japan, fehlt die Liebe zu den Dingen«, sagt er. Und diese Erkenntnis fiel ihm bereits ganz im Osten der Türkei zu, am blauen Vansee, aus dem deutsche und amerikanische Geologen eben Bohrproben aus großer Tiefe entnommen hatten.
Es war nicht das letzte Mal, dass den beiden Globetrottern aus Wien der alte Kontinent Europa mit seiner calvinistischen Kultur und Grundstimmung wie eine Insel in einem Meer von Unwissenheit und Unverständnis erschien. Dieser Eindruck kehrte bei ihnen an vielen Stationen entlang der alten Seidenstraße nach China wieder.

»In ganz Südostasien lieben es die Frauen im Bus zu kotzen«.

In China fiel den neuen Marco Polos auf, dass die Klarheit der Kaligraphie in einem krassen Missverhältnis zum Chaos der phonetischen Sprache steht. Neben dem »manchesterkapitalistische Land«, so Vonwiller, verhalte sich die Schweiz geradezu »wie ein kommunistisches Paradies«. Das Entstehen einer chinesischen Mittelschicht sei das Beste, was China heute passieren konnte. Ob es allerdings gut für die Welt sei, müsse dahingestellt bleiben.

In Indonesien roch es permanent nach verbranntem Plastik.

Zu den eindrucksvollsten Stellen des Buches gehören die Beobachtung eines Dusky-Leaf-Monkey im Taman Negatra-Nationalpark in Malaysien. Der Affe verschwand immer kurz in einem Bambusgebüsch, wenn echte Touristen vorbeihetzen, um danach wieder aus den Blättern heraus zu steigen und sich die entspannten Weltreisenden ebenso neugierig anzuschauen wie sie ihn.

Ähnlich malerisch, Monate später: der Flug von Aras im Corovada-Nationalpark in Costa Rica.

Vonwiller urteilt hart und zugleich verständnisvoll über die moslemische Welt. »Was«, fragt er unter den Malaien, »wäre der Islam ohne Lautsprecher?« Im überwiegend von Christen bewohnten Nordcelebes ändert sich dann dieser Tonfall. »Islamischer Terrorismus hat seine Ursachen weniger in sozialer Ungerechtigkeit… er ist nach meinem Gefühl viel mehr eine Reaktion auf dauerndes Erniedrigtwerden, auf gekränkten Stolz und Ehre«.

Da mag viel dran sein. Aber erstens ist der islamische Terrorismus keineswegs die Geisel unserer Zeit, zu der ihn westliche Massenmedien nach jedem Attentat hochstilisieren. Die Geisel unserer Zeit ist und bleibt die sämtliche Lebensbereiche erfassende Arbeitshetze, die ökonomische Abhängigkeit der Menschen von idiotischen Jobs.

Diese Abhängigkeit hat überall in der industrialisierten Welt in den letzten Jahrzehnten zugenommen.

Zweitens erniedrigt in Europa niemand moslemische Migrantenkinder aufgrund ihrer Religion. Drittens zwingt sie in Frankreich niemand das Satireblatt »Charlie Hebdo« zu lesen, usw. Der »gekränkte Stolz und die beleidigte Ehre« sind sowenig eine Erklärung für den islamischen Terrorismus, wie das die nassforsche Offiziersmentalität für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs war.

Zum »gekränkten Stolz« der Islamisten gehört ja ein Anspruch auf geistige Hegemonie, der von allen anderen, den Gläubigen und den Ungläubigen, den Moslems und den Nichtmoslems notwendigerweise zugewiesen werden muss. Und zur höheren »Ehre der Krummsäbel« gehört auch ein islamischer Machismo, der in einer Welt der Gleichberechtigung der Geschlechter nichts mehr verloren hat.

Unsere beiden Weltreisenden beklagen die Frauenverachtung nicht unter Moslems, sondern auf Papua Niugini. Sie beschreiben Australien als Sauf- und Fickparadies von Jugendlichen aus reichen europäischen Ländern. Und sie loben den dortigen Natur- und Artenschutz:

»Es wird eine Zeit kommen in nicht allzu ferner Zukunft, da wird es auf unseren Planeten noch genau ein Land mit tropischem Regenwald und Korallenriffs geben, und es wird Australien heißen!«

© Ligia Fonseca

 

In Vanuatu fällt der Reisebericht wieder politisch naiv aus. Von der glücklosen Pfeil- und Bogenrebellion des Jimmy »Moses» Stevens und seiner Anhänger 1980 haben unsere Gäste vor Ort nichts zu hören bekommen.

Doch dieses Buch will sich ja nicht Geschichtsforschung betreiben, sich auch nicht mit der Zukunftsforschung eines Robert Kaplan vergleichen. Es ist eine selbstbestrickte und darum sehr sympathische Reiseliteratur. Abwechslungsreich, amüsant und unabhängig.

Vonwiller diskutiert die Absurdität von Rugby-Spielen und finden eine passable Erklärung in einer parareligiösen Grundstruktur dieses Sports, welche die Zuschauer glauben lässt, dass es da immer jemanden gibt, der die komplizierten Regeln am Spielfeld versteht.

In der Südsee bemerkt man die Unzufriedenheit von weißen Auswandern; Vonwiller führt die sichtbare Enttäuschung dieser Freiheitssucher aus dem Westen auf intellektuelle Faulheit unter der Tropensonne zurück.

»Man muss sich halt auch fürs Paradies interessieren, wenn man im Paradies sitzt«, sagt er, also für die Fische der Korallenriffs, für die Seeschlachten des Zweiten Weltkriegs und für den Zusammenhang zwischen krähenden Haushähnen und der Erforschung der Higgs-Teilchen.

Das alles gibt es im Paradies.

© Wolfgang Koch 2015

Adrian Vonwiller und Ligia Fonseca: Supermann im Vogelkäfig. Die politisch-unkorrekte Weltreise. Unartproduktion, Dornbirn 2014, 239 Seiten, ISBN: 978-3-901325-87-8, Euro 22,00.

Fotos aus Brasilien und Kasachan von Ligia Fonseca

Videos: Superman im Vogelkäfig

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